Für André E. wird es eng
31. August 2017Vier Männer und eine Frau sitzen im Strafverfahren gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) auf der Anklagebank. Beate Zschäpe ist die bekannteste. Sie ist nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft "Mittäterin". Deshalb muss sie wohl mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechnen - wegen zehnfachen Mordes, zweier Sprengstoffanschläge und zahlreicher Raubüberfälle. Welche Strafen die Ankläger für Zschäpe und ihre Mitangeklagten fordern, dürfte spätestens Mitte September bekannt sein.
Unter dem Eindruck des am Donnerstag vor dem Oberlandesgericht München fortgesetzten Plädoyers muss sich auch André E. auf einige Jahre hinter Gittern einstellen, wenn der Strafsenat unter Vorsitz von Richter Manfred Götzl den inhaltlichen Einlassungen der Anklage im Kern folgt. Der 38-jährige E. war zwar nach Überzeugung des vortragenden Oberstaatsanwalts Jochen Weingarten "nicht in Tatplanungen involviert". Er hält es aber auch für ausgeschlossen, dass E. nichts davon gewusst hat. Im Gegenteil: E. sei nach dem Untertauchen des NSU 1998 von der ersten Stunde an die "helfende Hand" gewesen.
Der Angeklagte soll Zschäpe bei der Flucht geholfen haben
Stundenlang erläutert Oberstaatsanwalt Weingarten, warum die Bundesanwaltschaft von E.s Schuld überzeugt ist. Er soll mehrfach Wohnmobile gemietet haben, die der NSU dann für Raubüberfälle und Bombenanschläge genutzt haben soll. Das Wohnmobil, in dem sich die mutmaßlichen NSU-Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am 4. November 2011 das Leben nahmen, war nicht darunter.
Am selben Tag steckte Zschäpe die letzte gemeinsam mit ihren Gesinnungsfreunden genutzte Wohnung in Zwickau in Brand - ein Anklagepunkt, den die 42-jährige selbst bestätigt hat. Die Bundesanwaltschaft geht fest davon aus, dass E. davon Kenntnis hatte und gemeinsam mit seiner Frau Susann der Hauptangeklagten bei ihrer anschließenden Flucht behilflich war. Zschäpe stellte sich vier Tage später freiwillig der Polizei.
Ein Tattoo mit der antisemitischen Parole „Die Jew, die!"
Aufgrund des langjährigen engen Verhältnisses zwischen der Familie E. und dem NSU-Trio spricht Oberstaatsanwalt Weingarten von einer "Wahlverwandtschaft" und meint damit auch ihre Gesinnung, die "nationalsozialistisch" und "antisemitisch" sei. Als Beleg dafür verweist Weingarten auf E.s äußeres Erscheinungsbild. Unter seinen zahlreichen Tätowierungen befindet sich die in rechtsextremistischen Kreisen weit verbreitete Parole "Die Jew, die!" ("Stirb Jude, stirb!").
Der Angeklagte E. folgt dem Plädoyer der Bundesanwaltschaft so, wie er dem gesamten NSU-Prozess vier Jahre lang gefolgt war: schweigend. Damit ist er der einzige Angeklagte, der sich mit keinem einzigen Wort zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen geäußert hat. Meistens sitzt er mit verschränkten Armen zwischen seinen Verteidigern. Manchmal beugt er sich kurz nach vorne, lehnt sich wieder zurück, die mit Tattoos übersäten Hände auf dem Schoß.
Zschäpe erschien mal als E.s angebliche Frau bei der Polizei
Ob sich die Strategie des Schweigens am Ende für E. auszahlt, ist fraglich. Dagegen spricht schon allein Zschäpes Aussage, in der sie E.s Helfer-Dienste und das freundschaftliche Verhältnis zur Familie E. zu großen Teilen bestätigte. Die "emotionale Verbundenheit" zwischen E. und dem NSU-Trio (Oberstaatsanwalt Weingarten) sieht die Anklage auch durch das Vortäuschen falscher Identitäten als erwiesen an. So soll E. manipulierte Bahncards für die mutmaßlichen Rechtsterroristen besorgt haben und Zschäpe bei einer Zeugenbefragung in einem anderen Verfahren gegenüber der Polizei als seine Frau Susann vorgestellt haben.
Dieses Täuschungsmanöver ereignete sich 2006. Zu diesem Zeitpunkt lebte das NSU-Trio schon acht Jahre im Untergrund. "All dies tat er zu dem Zweck, dass das Trio weiter als terroristische Vereinigung aktiv bleiben konnte", sagt Weingarten über den Angeklagten. Auch diesen Satz nimmt E. ohne erkennbare Regung zur Kenntnis. Dabei dürfte ihm klar sein, dass es eng für ihn werden dürfte, weil er "ganz dicht dran war am NSU". Ankläger Weingarten geht davon aus, dass sein Plädoyer auch von E. selbst nicht bestritten werden würde, "wenn er sich denn äußern würde". Eine Bemerkung, die zumindest auf der Zuschauer- und Pressetribüne für Erheiterung sorgt.
Von der Tribüne rieseln Papierschnipsel in den Gerichtssaal
Alles andere als komisch finden die meisten das, was sich schon zu Beginn des Verhandlungstages ereignet. Als Weingarten mit seinem Plädoyer anfangen will, sind plötzlich Zwischenrufe zu hören: "Wir klagen an", ruft eine Frau, die sich unter die Zuhörer oberhalb des Sitzungssaals gemischt hat. Sie und drei, vier andere werfen der Bundesanwaltschaft abwechselnd "institutionellen Rassismus" und "Missachtung der Betroffenen" vor. Gemeint sind die NSU-Opfer und deren Angehörige. Im nächsten Moment wirft ein Mann Papierschnipsel in den Gerichtsaal. Justizbeamte führen die Protestierer aus dem Saal. Und der Vorsitzende Richter Manfred Götzl unterbricht die Verhandlung für ein paar Minuten.
Zu der Aktion bekennt sich das Aktionsbündnis "NSU-Komplex auflösen", das seit dem Morgen vor dem Gerichtsgebäude gegen die angebliche Untätigkeit von Politik und Behörden protestiert. In einer Pressemitteilung wirft das Bündnis der Bundesanwaltschaft vor, sie habe sämtliche Versuche behindert, "das neonazistische Unterstützernetzwerk des NSU zu ermitteln".
Kritik an staatlichen Behörden ist im NSU-Prozess nicht neu. Auch die Anwälte vieler Nebenkläger kritisieren das Agieren der Bundesanwaltschaft seit langem. Anders als die gehen sie davon aus, dass hinter dem NSU-Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt ein größeres Netzwerk steckt, jedenfalls weit mehr Helfer und Unterstützer als die fünf Angeklagten im Münchner Prozess.