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"Wenig Zeit zur Abwehr"

Bernd Riegert19. Mai 2012

Vom NATO-Luftkommando in Ramstein aus wird die künftige Raketenabwehr dirigiert. Wie soll sie funktionieren? Der deutsche General Friedrich Wilhelm Ploeger ist stellvertretrender Befehlshaber in Ramstein.

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A U.S.-made Patriot missile is launched during the annual Han Kuang No. 22 exercises, Thursday, July 20, 2006, in Ilan County, 80 kilometers (49 miles) west of Taipei, Taiwan. The goal of the exercises is to test the joint combat capability of the Taiwanese armed forces to fend off a Chinese offensive. Taiwan split from China in 1949 amid civil war and China hasn't ruled out the use of force to unify the island. (ddp images/AP Photo)
USA Militär Raketenabwehr Patriot RaketeBild: AP

Deutsche Welle: Beim NATO-Gipfel in Chicago soll eine vorläufige Einsatzfähigkeit der Raketenabwehr festgestellt werden. Was genau funktioniert denn heute schon von diesem System?

General Friedrich Wilhelm Ploeger: In Chicago erwarten wir die Erklärung der "Interim Capability". Ich benutze den englischen Begriff, weil er exakt das beschreibt, was wir können bzw. was wir nicht können. Es ist noch sehr, sehr wenig, denn wir stehen am Anfang des Aufbaus dieser Fähigkeit. Wir haben dann ein System, welches in der Lage ist, den Angriff von ballistischen Flugkörpern wahrzunehmen, also die Lage im Weltraum zu beurteilen und zu sagen, jetzt fliegt eine Rakete. Und wir sind in der Lage, die Abfangvorgänge zu beobachten. Wir haben geschützte Sprechverbindungen zu den NATO-Stellen und zu den Nationen, die Fähigkeiten bereitstellen.

Das ist am Anfang sehr, sehr wenig. Man kann sich vorstellen, dass dies am Anfang vergleichsweise bescheiden ist. Wir werden uns abstützen auf die Fähigkeiten eines amerikanischen Lenkwaffen-Zerstörers und wir werden uns abstützen auf Radar-Informationen durch einen Sensor, der auf türkischen Boden steht. Wir werden uns auf Daten abstützen, die aus dem amerikanischen Satelliten-Frühwarnsystem kommen. Das Ganze wird verknüpft durch ein Führungssystem, welches die NATO dazu stellt. Das ist System, das uns erlaubt, all diese Informationen in Realzeit darzustellen und notwendige Abfangvorgänge mit zu beobachten.

Generalleutnant Friedrich Wilhelm Ploeger Foto: Pressestelle NATO
Generalleutnant Ploeger: Aufbau bis zum Ende des JahrzehntsBild: NATO Ramstein

Ganz laienhaft gefragt: Wenn jetzt ein Risikostaat südöstlich von Europa eine Rakete abfeuern würde, können Sie die bereits abfangen oder beschränkt sich das darauf, zu erkennen, dass etwas kommt?

Das System beschränkt sich in erster Linie jetzt darauf zu erkennen, ob aus einem bestimmten Gebiet ein Flugkörper gestartet wird gegen NATO-Territorium. Die Abfangfähigkeit richtet sich danach, ob der abgeschossene Flugkörper in den Bereich hineinfliegt, den wir derzeit mit unserem System schützen können. Wenn er in eine andere Richtung fliegt und wir dies nicht berücksichtigt haben in unserer Vorplanung, dann können wir leider nichts unternehmen.

Ganz Europa soll geschützt werden

Sie werden über die Jahre die Fähigkeiten weiter ausbauen, so dass Sie im Endausbau tatsächlich in der Lage sind, alles abzufangen, was auf europäisches Territorium abgeschossen wird. Sehe ich das richtig?

Das ist die Grundidee des Planes, dass die NATO am Ende die Fähigkeit besitzt, das gesamte europäische NATO-Gebiet, die Bevölkerung und Streitkräfte der NATO-Staaten zu schützen. Dieses Stadium werden wir voraussichtlich Ende dieses Jahrzehnts erreichen. Dazu werden die US-Systeme, die die Amerikaner bereitstellen, in ihren Fähigkeiten wachsen. Wir erwarten allerdings auch, dass die NATO-Bündnispartner aus Europa Fähigkeiten beistellen und ergänzen oder sogar eigene Entwicklungen betreiben, um das System zu komplettieren.

Wie läuft die Bekämpfung einer Rakete konkret ab? Sie unterscheidet ja verschiedene Phasen. Die erste Phase ist der Start der Rakete, das Aufsteigen bis zum Scheitelpunkt der Flugbahn. Was können Sie in dieser Phase machen?

In dieser Phase beobachten wir die Rakete, das heißt die Systeme erlauben es uns, den Start zu beobachten und das Aufsteigen zu sehen. Mit dem Radargerät, das wir stationiert haben, können wir dann erste Bahnvermessungen vornehmen und feststellen, wo der Flugkörper voraussichtlich hinfliegen wird. Wir können während des Aufsteigens den Flugkörper noch nicht bekämpfen. Das ist erst später möglich, wenn der Flugkörper den Scheitelpunkt überquert hat und in der sogenannten "Mid Course Phase" (Flugphase) fliegt. Oder im Notfallfall können wir mit entsprechenden Systemen, wenn sie an dem Objekt, auf den der Flugkörper zielt, stationiert sind, eine Endbekämpfung durchführen, zum Bespiel mit Patriot-Systemen.

"Zeit ist der entscheidende Faktor"

Wie viel Zeit bleibt Ihnen eigentlich? Kann man das in Minuten oder Stunden ausdrücken, wie viel Zeit bleibt, um zu entscheiden: Das, was da kommt, muss bekämpft werden?

Der Faktor Zeit ist gerade bei der Bekämpfung von ballistischen Flugkörpern der entscheidende Faktor. Uns bleiben, je nach Reichweite der ballistischen Flugkörper, von wenigen Minuten bis zu maximal 20 Minuten Zeit, die komplette Bewertung eines Flugkörpers vorzunehmen. Innerhalb dieser 20 Minuten steht uns nur ein ganz kleines Fenster, ein Bruchteil der Flugzeit zur Verfügung, um einen erfolgreichen Abfangversuch zu starten.

Werden die Entscheidungen dann von den Systemen selbst getroffen oder ist das noch ein Mensch dazwischen geschaltet - läuft das Ganze automatisiert ab?

Der Mensch hat seine entscheidende Phase bei der Abwehr ballistischer Flugkörper in der detaillierten Planung der Reaktion im Falle eines Angriffes. Das ist die Phase, in der wir in der NATO derzeit stehen, in der wir alle Vorplanungen, Konzepte und Regeln besprechen. Diese sind notwendig, damit im Falle eines Angriffs mit ballistischen Flugkörpern die Reaktion zur Abwehr so schnell wie möglich, ohne Verzug, aufgenommen werden kann. Im Endstadium, wenn also der Flugkörper von den Systemen erfasst wurde, dann berechnen die Abfangsysteme an Bord eines Zerstörers beispielsweise automatisch den optimalen Zeitpunkt, wann der Abfangflugkörper gestartet wird und wohin er gerichtet wird, um optimal die angreifende Rakete abzuschießen.

Bekämpfung im Weltraum angestrebt

Nach der Startphase geht die angreifende Rakete dann in die Flugphase. Dann können Sie die Rakete mit Abfangraketen vom Typ SM-3 von US-Kriegsschiffen aus bekämpfen?

Die Systeme, die auf den US-Schiffe stationiert sind, sind sogenannte Exo-athmosphärische Flugkörper, die während der Mid-Course-Phase angreifende Flugkörper abfangen können. Wir bewegen uns dann in Flughöhen deutlich außerhalb der Erdatmosphäre im Weltraum.

Wenn das scheitern sollte und sich die Rakete auf ihrer Flugbahn dann dem Ziel nähert, was können Sie dann noch unternehmen?

Unser System zielt darauf, dass wir im Endausbau mehrere Abfang-Schichten hintereinander haben. Die ganz, ganz bedeutenden Objekte erhalten zusätzlichen Objekt-Schutz. Das sind Kräfte mit speziellen Abfangsystemen, die dann allerdings innerhalb der Erdatmosphäre arbeiten. Ich muss allerdings auch dazu sagen, das solche Systeme nur sehr, sehr geringe Zeit zur Verfügung haben, einen angreifenden Flugkörper in dieser Endphase zu attackieren. Das Risiko eines Scheiterns beim Abfangen wird natürlich größer. Deshalb wollen wir versuchen, angreifende Flugkörper so früh wie möglich und daher auch so sicher wie möglich abzufangen.

Herr General, Sie haben gesagt, am Ende des Jahrzehnts soll diese Raketenabwehr für Europa in der Phase des Endausbaus sein. Wird dieses System dann irgendwann auch mit dem bereits bestehenden System der USA verheiratet? Die Amerikaner sind ja dabei, ihren eigenen Kontinent mit einer eigenen Abwehr zu schützen. Gibt es am Ende eine Art überwölbende Architektur?

Die NATO baut ihr System auf, um europäische Bevölkerung und Truppen im Einsatz zu schützen. Was die US-Seite für den Schutz Nordamerikas plant, das erschließt sich uns nicht. Derzeit ist von NATO-Seite auch nicht geplant, eine Verknüpfung vorzunehmen.

Generalleutnant Friedrich Wilhelm Ploeger ist seit Juli 2010 stellvertretender Befehlshaber des NATO-Luft-Kommandos in Ramstein. Dort ist er auch für den Aufbau der Operationszentrale für die europäische Raketenabwehr zuständig. Auf dem US-Flugplatz Ramstein in Rheinland-Pfalz hat die Luftverteidigung der Alliierten für Europa ihren Sitz.