Raketenabwehr fängt bescheiden an
11. Mai 2012Die Raketenabwehr-Zentrale im rheinland-pfälzischen Ramstein besteht im Moment nur aus wenigen Soldaten und Computer-Arbeitsplätzen. Sie ist ein Anhängsel des Alliierten Luft-Kommandos, das mit einigen Hundert Soldaten für die NATO die Verteidigung des Luftraums über weiten Teilen Europas organisiert. In Ramstein werden Daten eventuell startender Raketen erfasst und ausgewertet. Den roten Knopf für die Abwehrraketen drückt hier aber niemand. "Unser System beschränkt sich in erster Linie jetzt darauf zu erkennen, ob aus einem bestimmten Gebiet heraus ein Flugkörper gestartet wird gegen NATO-Territorium", sagt General Friedrich Wilhelm Ploeger, der stellvertretende Befehlshaber des Alliierten Luft-Kommandos im Gespräch mit der Deutschen Welle. Im Moment sei das alles noch bescheiden. "Die Abfangfähigkeit richtet sich danach, ob der Flugkörper in den Bereich hineinfliegt, den wir mit diesen Abfangsystemen derzeit schützen können. Wenn er in einen anderen Bereich hineinfliegt und wir das nicht berücksichtigt haben in unseren Vorplanungen, dann können wir leider nichts unternehmen", so Ploeger. Das heißt, im Moment ist das System nur teilweise funktionsfähig.
Schutz vor möglicher Atomrakete aus Iran
Das "System der Systeme" aus Satelliten, Radaranlagen, Abfangsystemen auf Schiffen und an Land soll bis 2020 in drei weiteren Phasen ausgebaut werden. Die Abfangraketen vom Typ SM3 kommen aus den USA und werden auf Schiffen im Mittelmeer sowie in Rumänien und Polen stationiert. Sie sollen Mittelstrecken- und Langstreckenraketen abfangen, die aus dem Iran abgeschossen werden könnten. Raketen mit kurzer Reichweite sollen von den aus dem ersten Golfkrieg bekannten Patriot-Raketen bekämpft werden, von denen auch die Bundeswehr zwei Dutzend Systeme besitzt. In Ramstein laufen die Fäden für die Operation zusammen, die Bekämpfung von angreifenden Raketen wird weitgehend automatisch abgewickelt, so die Planspiele. Der Mensch sei hauptsächlich bei der Planung und Einrichtung des Abwehrsystems gefragt, so General Friedrich Wilhelm Ploeger. "Der Faktor Zeit ist gerade bei der Bekämpfung von ballistischen Flugkörpern der entscheidende Faktor. Uns bleiben, je nach Reichweite der ballistischen Flugkörper, zwischen wenigen Minuten bis maximal 20 Minuten Zeit, die komplette Bewertung eines Flugkörpers vorzunehmen. Innerhalb dieser 20 Minuten steht uns auch nur ein ganz kleines Fenster, ein Bruchteil der Flugzeit zur Verfügung, um einen erfolgreichen Abfangversuch zu starten."
Vieles ist noch Theorie
Fachleute bewerten die Chancen, dass die europäische Raketenabwehr am Ende nach Jahrzehnte langen Planungen tatsächlich funktionieren wird, unterschiedlich. Der Sicherheitsexperte Professor Joachim Krause von der Universität Kiel weist darauf hin, dass die vorgesehenen Lenkwaffensysteme ja schon bei den amerikanischen Streitkräften im Gebrauch sind. "Dieses Programm basiert auf vorhandenen Komponenten, welches auch schnell, zumindest teilweise, einsatzbereit sein soll. Das ist eben nicht Krieg der Sterne, 'Star Wars', sondern das ist schon in den nächsten Jahren realisierbar." Oliver Meier vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg sieht das anders. "Die Systeme gibt es zum großen Teil ja noch gar nicht. Die kritische Phase beginnt, wenn ab 2018 eine neue Abwehrrakete für Langstreckenwaffen eingeführt werden soll. Ob die funktionieren wird, ist völlig unklar." Die NATO hat den Anspruch, die gesamte europäische Bevölkerung vor einem Atomschlag aus dem Iran zu schützen, so Oliver Meier gegenüber der DW. "Deshalb muss ein hoher Grad von Einsatzsicherheit da sein. Das ist bei so komplexen Systemen wie der Raketenabwehr wahrscheinlich nie zu garantieren. Denn gerade bei der Bedrohung mit Atomwaffen reicht es ja aus, wenn ein einziger Sprengkopf durchkommen würde."
Der stellvertretende Befehlshaber des Alliierten Luft-Kommandos in Ramstein, General Ploeger, ist zuversichtlich, dass das System am Ende die versprochene Leistung bringt. Wenn aber zum Beispiel Raketen mit mehreren Sprengköpfen bekämpft werden sollen, dann sei ein erheblich größeres System notwendig, so der deutsche Luftwaffen-General: "Diese Möglichkeit von Flugkörpern mit Mehrfach-Sprengköpfen haben wir bislang in unseren Planungen nicht intensivst berücksichtigt."
Flexibel und preiswerter
Der Aufbau der europäischen Raketenabwehr unter dem Dach der NATO war beim letzten Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Lissabon im November 2010 beschlossen worden. US-Präsident Barack Obama hatte bereits 2009 eine neue schlankere Strategie für die Raketenabwehr aufgestellt. Flexibler und preiswerter sollte das System sein. "Unsere neue Architektur für die Raketenabwehr in Europa wird eine schnellere und klügere Abwehr bieten, um unsere Truppen und unsere Verbündeten zu schützen", versprach Obama. Damit beendete der US-Präsident eine Jahrzehnte anhaltende Planungs- und Entwicklungsphase für eine globale Raketenabwehr, in die unter den Präsidenten Bush und Clinton bereits viele Milliarden US-Dollar investiert worden waren. Begonnen hatte alles mit der berühmten "Star Wars"-Rede von US-Präsident Ronald Reagan im März 1983. Reagan wollte mit seiner "Strategischen Verteidigungsinitiative" (SDI) den Kalten Krieg in den Weltraum verlegen. Ein Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion sollte die Kommunisten in die Knie zwingen.
Als dann sechs Jahre später die Mauer fiel und die Sowjetunion zerbrach, war auch SDI überflüssig geworden.
Russland sieht Bedrohung
Die Idee einer Raketenabwehr lebte aber weiter. Und auch der Konflikt zwischen den Blöcken. Bis heute beharrt Russland darauf, dass die regionale Raketenabwehr in Europa eine Bedrohung für das Land darstelle. Die Sicherheitsexperten Joachim Krause und Oliver Meier sehen das anders. Für Oliver Meier sind die ersten Phasen der NATO-Raketenabwehr für Russland militärisch völlig uninteressant. "Man muss schon sagen, dass die russische Sorge übertrieben ist, denn im Moment verfügt Russland noch über mehrere Tausend Atomraketen. Die Vorstellung, dass ein Abwehrschild diese Menge an Raketen abfangen könnte, ist doch eine Illusion." Allerdings, so Professor Joachim Krause von der Universität Kiel, eine Sorge der Russen könne er nachvollziehen. "Wenn die Amerikaner durch die regionale Abwehr in Europa auf den Geschmack kommen, dann könnte es sein, dass sie auch gegenüber Russland Raketenabwehrsysteme einsetzen. Das könnte aus russischer Sicht bedeuten, dass dann das strategische Abschreckungspotenzial gegenüber den USA langsam entwertet werden könnte."
NATO lädt Russen zum Mitmachen ein
Die NATO hat jahrelang versucht, diese Befürchtungen zu zerstreuen, bislang ohne Erfolg. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat beim letzten Außenministertreffen der Allianz mit dem russischen Ressortchef Sergej Lawrow Mitte April noch einmal eine Zusammenarbeit angeboten. "Die beste Rückversicherung, die Russland bekommen könnte, wäre sich auf eine direkte Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr mit uns einzulassen. Wir haben vorgeschlagen, eine oder zwei gemeinsame Zentralen aufzubauen, in denen Daten und Erkenntnisse ausgetauscht und gemeinsame Übungen vorbereitet werden", sagte Rasmussen. Durch diese Kooperation könne Russland mit eigenen Augen sehen, dass das NATO-System nicht gegen Russland gerichtet sei.
Trotz aller Rhetorik auf der politischen Ebene gibt es in der militärischen Praxis durchaus eine Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland. Bei der Abwehr von Raketen kürzerer Reichweite, der sogenannten Gefechtsfeld-Verteidigung, führten die NATO und Russland im Winter eine gemeinsame Übung durch, in der alle Szenarien durchgespielt wurden.