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Ein Gespräch mit Yannick Nézet-Séguin

17. Juni 2015

Der Stern des 40-jährigen Dirigenten steigt. Viele möchten ihn gern als Musikdirektor der Berliner Philharmoniker sehen. Im Gespräch mit der DW erzählt Yannick Nézet-Séguin, was ihn antreibt.

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Yannick Nézet-Séguin
Bild: picture-alliance/EPA/B. Gindl

Yannick Nézet-Séguin stammt aus Montreal und studierte am Musikkonservatorium in Québec. Seit 2010 leitet er das Philadelphia Orchestra. Kürzlich war er auch als Nachfolger für Simon Rattle an der Spitze der Berliner Philharmoniker im Gespräch, bis die Wahl durch die Orchestermitglieder vertagt wurde. Seit einigen Jahren ist der Frankokanadier "Artist in Residence" beim Konzerthaus in Dortmund. Dort sprach er während seiner Tournee mit der DW.

DW: Wenn man das Philadelphia Orchestra an diesem Ort hört, trifft ein warmer Klang auf eine warme Akustik. Sie sind eine besondere Verbindung mit dem Dortmunder Konzerthaus eingegangen. Warum kommen Sie immer wieder hierher? Lockt Sie der Ort oder der Stil des Hauses?

Yannick Nézet-Séguin: Wenn überhaupt etwas zustande kommen soll, muss erst einmal die Basis stimmen. Der Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa sprach mich 2008 an und sagte: "Kommen Sie nach Dortmund! Es ist einer der besten unter den neueren Konzertsälen." Direkt beim ersten Besuch verliebte ich mich in den Ort und war dann sehr am Konzept interessiert: Es geht hier darum, Leute aus ganz Deutschland anzuziehen und die Region kulturell zu beleben. Und dann stimmt auch der Stil: die Art und Weise, wie man Programme zusammenstellt, die Vermarktung, die Vision, die Kreativität, auch der Wagemut, den man hier spürt. Das hat sehr viel mit meinem eigenen musikalischen Ansatz gemein.

Ich bin auch dem Dortmunder Publikum sehr dankbar. Die Leute haben mich immer sehr freundlich aufgenommen und sind zahlreich erschienen, ob ich hier mit den Rotterdamer Philharmonikern aufgetreten bin oder mit den Londoner Philharmonikern, dem Chamber Orchestra of Europe oder dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Nun kam die Krönung für mich: das Philadelphia Orchestra hierherzubringen und zu erleben, wie gut die Akustik zum Orchesterklang passt.

Yannick Nézet-Séguin. (c) dpa – Bildfunk
Präzises und profiliertes Dirigieren - mit Wärme und CharismaBild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

Es wird Ihnen zugeschrieben, dass Sie dieses Orchester vor dem Konkurs gerettet haben. Natürlich hat es jetzt wahrscheinlich ein neues Geschäftsmodell. Aber was können Sie über die künstlerische Seite sagen? Wie ist es um die Musiker bestellt? Spielen Sie, als ob ihre Existenz davon abhängt - etwa, weil das wirklich so ist?

Nun, als das Orchester kurz vor der Pleite stand - das war 2010, '11, '12 - ist es nie von seinen künstlerischen Grundsätzen abgewichen. Die Spielqualität war nie gefährdet. Um aus der Krise herauszukommen, musste jeder einzelne sein Bestes geben. Und ich war immer bereit, an vorderster Front zu kämpfen, denn ich wusste, dass ich eine Gruppe Musiker vor mir hatte, für die das Wort "Großzügigkeit" im Kern zutrifft. Damit meine ich nicht die finanzielle, sondern eine musikalische Großzügigkeit. Sie sind bereit, alles zu geben - und ich bin es auch. Das haben wir gemeinsam. Es stimmt also: Ihre Existenz hängt wirklich davon ab, aber nicht erst seit 2011. Das war immer so, denn das, was wir den "Philadelphia Sound" nennen, geht bis in die Ära Leopold Stokowskis zurück, also in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es war immer ein reicher, voller Klang - und er stieß in unserer Gemeinde auf großen Anklang.

Apropos Philadelphia Sound: Wird es heutzutage nicht immer schwieriger zu sagen: Das ist die Tradition, der Klang, das bestimmte Etwas eines Orchesters? Wie die meisten Ihrer Kollegen dirigieren Sie auf mindestens zwei Kontinenten. Spüren Sie dennoch jedes Mal einen kleinen Klang-Kulturschock, wenn Sie nach Europa kommen, etwa um die Rotterdamer Philharmoniker zu dirigieren? Und wenn Sie anschließend wieder nach Philadelphia zurückkehren: Gibt es dann wieder einen kleinen Schock?

Orchesterpersönlichkeiten und Orchesteridentitäten: Das ist ein faszinierendes Thema! Ich bin derzeit in der besonderen Lage, dieses Phänomen wahrzunehmen und zu bezeugen. Natürlich haben Orchester ihre eigenen Persönlichkeiten, und ja, sie drohen zunehmend zu verschwinden. Es liegt an uns Dirigenten, die Unterschiede unter den Klangkörpern zu bewahren und zu fördern, damit nicht hinterher alle gleich klingen. Und es stimmt: Wenn ich irgendwohin zurückkehre, kommt der kleine Schock - und zwar immer dann, wenn ich den ersten Klang höre. Auch wenn ich damit gerechnet habe, denke ich dann immer noch: Ja! Es stimmt!

Ich habe zum Beispiel am Anfang der Saison die Dritte Sinfonie von Brahms dirigiert, zuerst mit dem Orchester aus Rotterdam. Ich hatte einen glasklaren, irgendwie poetischen Klang im Sinn. Dann kam ich in Philadelphia an und hörte jenen dunklen Klang - sogar von den ersten Geigen in den höchsten Registern klang das dunkel. Natürlich arbeite ich mit beiden Orchestern an derselben Interpretation, möchte aber gewiss nie ihre Grundqualititäten in Frage stellen.

Yannick Nézet-Séguin. Foto: Ralph Orlowski/Getty Images
Musiker und Fans nennen ihn einfach 'Yannick'Bild: Getty Images/R. Orlowski

Es ist also wichtig, den individuellen Klang eines Orchesters zu bewahren. Kann man den Gedanken fortspinnen: Gibt es - oder gibt es noch - einen amerikanischen oder einen europäischen Orchesterklang? Und falls es ihn gibt: Kann man das in Worte fassen?

Ich glaube, dass es früher mehr solcher Unterschiede zwischen Amerika und Europa gab. Aber in welche Schublade passt dann heute ein asiatisches, ein kanadisches oder ein australisches Orchester? Früher waren die Orchesterschulen unterschiedlicher ausgeprägt. In Philadelphia zum Beispiel: Dort ist die Hochburg der amerikanische Schule für Holzblasinstrumente. Es waren aber Europäer, die diesen Stil im frühen 20. Jahrhundert dorthin brachten. Wenn wir heute auf Tournee sind - besonders in Deutschland - sagen mir die Leute dann: "Dieser Klang ist sehr altmodisch." Für europäische Ohren klingt das etwa so wie die Berliner oder die Wiener Philharmoniker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Also ja, es gibt noch Klangunterschiede zwischen der Alten und der Neuen Welt. Aber ich denke, diese Unterschiede machen sich eher daran fest, wie sich Orchester verhalten und wie sie proben. Ich dirigiere zum Beispiel häufig das Symphonierchester des Bayerischen Rundfunks. Sie spielen auf demselben Niveau wie das Philadelphia Orchestra, nehmen aber viel mehr Probezeit in Anspruch. Nicht weil sie es brauchen, um das Stück hinzubekommen, sondern weil sie in die Tiefe gehen und viel über die Musik diskutieren wollen. Die Philadelphia-Musiker ihrerseits kommen so gut vorbereitet zur Probe, dass es nur ein kleines Zeichen von mir bracht - einen Fingerzeig oder einen Augenausdruck - und sie wissen sofort, was ich will. Da gibt es weniger Gespräche und kürzere Proben. Aber abgesehen von solchen Unterschieden, glaube ich, dass wir uns weniger auf nationale Unterschiede als auf die Unterschiede zwischen einzelnen Städten fokussieren sollten - auf ihre Orchesteridentitäten und -Traditionen - und auch darauf, wie man diese der Welt vermitteln kann.

Yannick Nézet-Séguin beim Beethovenfest Bonn 2014. Copyright: Barbara Frommann
Er spielt auf Zeit - und er hat sie auchBild: Barbara Frommann

Vielen ist der Tag noch frisch in Erinnerung, als die Berliner Philharmoniker zusammenkamen, um einen neuen Chefdirigenten zu wählen - und es dann doch nicht taten. Sie kennen dieses Orchester. Gab es vielleicht soviel Hype um die Wahl, dass die Musiker mit der Entscheidung überfordert waren? Haben sie zu sehr den Erwartungsdruck der Welt gespürt? Denn es klang teilweise so, als ob die ganze Zukunft der Musik davon abhinge ...

Ich kann nicht für die Berliner sprechen, aber das mag stimmen: Dieses Ensemble steht immer noch ganz oben in der Hierarchie der Musikwelt. Und zwar aus historischen Gründen - was sowohl die frühere als auch die jüngere Geschichte betrifft. Man denke nur an die ganzen Innovationen, die Simon Rattle brachte - oder an ihren Umgang mit den Medien bis hin zur Digital Concert Hall. Ich finde es großartig, dass die Berliner Philharmoniker das Flagschiff unserer Musikwelt sind. Also ja: Sie müssen die große Verantwortung gespürt haben. Alle Augen richteten sich auf Berlin. Und ist es nicht wunderbar, dass Zeitungen, Radio und Fernsehen sich für das Thema interessiert haben? Das ist gut für unsere Welt. Ob der Druck auf die Musiker zu groß war? Ich sehe das so: Sie haben es gar nicht so eilig - und wenn sie im Augenblick nicht zu einem Konsens kommen können, ist es gar nicht so schlimm abzuwarten. In der Sache bin ich ganz gelassen, zumindest aus der Perspektive des Orchesters gesehen!

Das Interview führte Rick Fulker. Auf Concert Hour können Sie ein Konzert des Rotterdam Philharmonic Orchestra unter der Leitung Yannick Nézet-Séguins hören.