Juncker auf EU-Spitzenposten
15. Juli 2014Kaum einer kennt sich in der Europa-Politik so gut aus wie Jean-Claude Juncker. Fast zwanzig Jahre war er luxemburgischer Ministerpräsident, hat an unzähligen EU-Ratssitzungen teilgenommen. Acht Jahre war er Präsident der Eurogruppe, und zwar in der Zeit, als die Gemeinschaftswährung, vielleicht sogar die EU insgesamt, ihre schwerste Krise erlebte. Juncker wird seitdem oft Mr. Euro genannt. Er selbst sagt heute unbescheiden: "Der Euro und die Europäische Union waren in Gefahr. Im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten habe ich alles getan, um die Katastrophe zu verhindern."
Die unmittelbare Krise mag vorbei sein, die Krisenfolgen aber sind geblieben. Die Arbeitslosigkeit, besonders unter Jugendlichen, sieht Juncker zur Zeit als die wohl schwerste Bürde des Kontinents. Es sei Europas "vornehmste Aufgabe, jungen Arbeitslosen, die Gefahr laufen, zu einer verlorenen Generation zu werden, Hoffnung und Perspektive zu geben".
Er sagt das Eine und das Gegenteil davon in einer Antwort
Sozialpolitik schreibt der Christdemokrat groß. Er geißelt Spekulanten und überzogene Managergehälter. Einfache Arbeitnehmer und ihre Rechte nimmt er in Schutz. Aber stehen für diese Haltung nicht eher die Sozialisten? Es waren immerhin die konservativen und christdemokratischen Regierungen in Europa, die den schmerzhaften Konsolidierungskurs durchgesetzt haben, darunter Jean-Claude Juncker. Und hätte er die Sparpolitik nicht mitgetragen, wäre er nicht EVP-Spitzenkandidat geworden. Das hätte Bundeskanzlerin Angela Merkel schon verhindert.
Wofür also steht Jean-Claude Juncker? Er sei politisch sehr schwer zu fassen, findet Pia Oppel, Redakteurin beim öffentlich-rechtlichen luxemburgischen Rundfunksender 100,7. "Er bringt es fertig, das Eine und das komplette Gegenteil und auch noch die Position in der Mitte in eine Antwort zu packen", so die Journalistin gegenüber der Deutschen Welle. Gerne garniert Juncker seine Sätze dann noch mit einer trocken-witzigen Bemerkung, und das wahlweise auf französisch, deutsch oder englisch.
Brüssel soll sich weniger einmischen
Junckers Kritiker mögen seine inhaltliche Vagheit für eine Schwäche halten. Sein großer Gegenspieler bei dem Europawahlen im Mai, der bisherige Parlamentspräsident Martin Schulz von den Sozialisten, positionierte sich da eindeutiger, als klar linker Kandidat. Aber wer Kommissionspräsident werden will, muss es in gewisser Weise allen recht machen in Europa. Das scheint Juncker auch verinnerlicht zu haben, vor allem seit der Krise: "Wir müssen neue Mauern, neue Demarkationslinien in Europa vermeiden. Ich bin allergisch gegen Aufteilung in Nord und Süd, in Groß und Klein, in Stark und Schwach. Ich möchte Brücken bauen, zusammenführen, Konsensmaschine in Europa werden."
Und auch das hat Juncker gelernt: Die Bürger haben die Nase voll von Brüsseler Regulierungen an den falschen Stellen wie beim Verbot von Glüh- und der Normierung von Tafelbirnen: "Zuviel Europa im Kleinen tötet Europa im Großen." Auch wer dem überzeugten Europäer Träume vom europäischen Superstaat andichtet, liege falsch, so die luxemburgische Journalistin Pia Oppelt: "Er ist gegen eine komplette Integration der EU bis zu einem Punkt, wo die Nationalstaaten verschwinden. Anders als unsere Kommissarin, die luxemburgische EU-Justizkommissarin Viviane Reding: Sie spricht sich immer für die 'Vereinigten Staaten Europas' aus. Da vertritt Jean-Claude Juncker eher den Status quo."
Nach Wahlsieg nun auch Kommissionspräsident
Kein Zweifel, Juncker hat vieles, was ein Kommissionspräsident braucht: Er ist erfahren, polyglott, politisch gemäßigt, zumindest als Kompromisskandidat vermittelbar bei vielen Regierungen. Doch er hat auch deutliche Schwächen. In den Wahlkampfdebatten wirkte Juncker ziemlich lustlos und müde. Und bekannt ist er im europäischen Maßstab auch nur innerhalb der EU-Zirkel. Außerdem gilt er - zu Recht - vollkommen als Teil des Brüsseler Systems, eines Systems, gegen das extreme und europafeindliche Parteien erfolgreich Wahlkampf geführt haben. Als Kommissionspräsident wird Juncker gegen starke Widerstände in vielen Mitgliedsstaaten kämpfen müssen, die Kompetenzen zurückhaben wollen.
Dass Juncker letztlich tatsächlich EU-Kommissionspräsident wird, stand lange nicht fest. Denn die Staats- und Regierungschefs hätten auch eine ganz andere Person für Europas Spitzenposten nominieren können. Bundeskanzlerin Merkel hat noch vor Junckers Wahl zum Spitzenkandidaten gesagt, es könne hier keinen Automatismus geben.
Doch die Staats- und Regierungschefs haben auch mitbekommen, dass der Wahlkampf der Spitzenkandidaten und die anschließende Debatte um die Vergabe der Kommissionsspitze im Laufe der vergangenen Monate eine zunehmende Eigendynamik entwickelt haben. Die Kandidaten warben in der Öffentlichkeit damit, die Wähler würden den Kommissionspräsidenten praktisch mitwählen. Und Juncker warnte, wenn sich die Regierungen nicht daran gebunden fühlten, geriete die europäische Demokratie in eine Krise, weil die Wähler sich dann verraten fühlten. Aber er hat dabei wohl auch an seine eigene Karriere gedacht.