Amtseinführung ohne Pomp und Glitzer
8. Dezember 2021Wenn Olaf Scholz an diesem Mittwoch seinen Amtseid als neunter Bundeskanzler ablegt, wird es voraussichtlich weder einen Autokorso mit jubelnden Menschen geben, die Deutschlandfahnen schwenken, noch wird eine berühmte Künstlerin oder ein Künstler gefühlvoll die deutsche Nationalhymne intonieren.
Der Tag beginnt damit, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem Bundestag vorschlägt, Scholz zum Bundeskanzler zu wählen. So weit, so erwartbar. Da der neue Bundestag aus 736 Abgeordneten besteht, muss Scholz bei der Kanzlerwahl im deutschen Parlament 369 Stimmen erhalten, um neuer Regierungschef zu werden, also eine absolute Mehrheit. Das dürfte kein Problem sein, verfügen die Fraktionen der angestrebten Koalition aus SPD, Grünen und FDP zusammen über 416 Stimmen.
Danach wird sich Scholz ins Schloss Bellevue begeben, um am Amtssitz des Bundespräsidenten offiziell ernannt zu werden und seine Ernennungsurkunde entgegenzunehmen. Dann wird er im Bundestag von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vereidigt. Im Bundestag wird Scholz wohl Blumensträuße von den Vorsitzenden aller Fraktionen erhalten, was dann schon der Höhepunkt an Festlichkeit und Glanz sein dürfte.
Auch die künftigen Ministerinnen und Minister erhalten im Schloss Bellevue ihre Urkunden und leisten danach ihre Amtseide im Bundestag. Vom Bundestag geht es für den neuen Regierungschef weiter in seinen Amtssitz: das Kanzleramt. Dort übergibt Vorgängerin Angela Merkel dann die Amtsgeschäfte an Olaf Scholz.
Wenig Raum für Ekstase
Der Ablauf der Amtseinführung in Deutschland lässt wenig Raum für Ekstase. In der deutschen Presse sorgte im Vorfeld allein die Tatsache für Aufsehen, dass Scholz die letzte Zeile des traditionellen Eides auslassen wird: "... so wahr mir Gott helfe". Aber das war ja auch schon so, als er Finanzminister oder Erster Bürgermeister von Hamburg wurde.
Zeremoniellen Pomp bei Amtseinführungen kennt man eher aus Ländern mit einem Präsidialsystem. Da gibt es dann schon mal Paraden oder militärische Aufmärsche, Menschenmengen wedeln mit kleinen Nationalflaggen. Wobei es auch kulturelle und religiöse Unterschiede gibt.
So nahm 2006 der erste indigene Präsident Boliviens, Evo Morales, einen Tag vor seiner Amtseinführung an einer traditionellen Zeremonie an einer heiligen Stätte der Prä-Inka teil. Barfuß und als Sonnenpriester gekleidet, wurde ihm ein mit Gold, Silber und Bronze besetzter Stab überreicht, der seine indigene Führungsrolle symbolisieren sollte.
In Ländern, die über Atomwaffen verfügen, gehört auch schon mal die symbolische Übergabe der Codes dazu, mit denen die Waffen scharf geschaltet werden - etwa in Russland, Frankreich oder den USA. Besonders Letztere sind für pathetische Rituale bekannt, wenn es zur sogenannten Inauguration eines neuen US-Präsidenten kommt.
Schon Tage vorher sind dann die Nachrichten voll mit Spekulationen, wie viele Zuschauer vor das Kapitol in Washington strömen werden und welche Stars bei der Zeremonie dabei sind. Ein Auftritt bei der Amtseinführung eines US-Präsidenten kann durchaus als Sprungbrett für die eigene Karriere dienen.
Das widerfuhr zuletzt der jungen Dichterin Amanda Gorman nach der Vereidigung von Joe Biden im Januar. Die als "heimlicher Star vom Kapitol" bezeichnete Poetin erhielt danach einen Model- und Buchvertrag.
Parlamentarische Demokratie
In Deutschland mit seiner parlamentarischen Demokratie ist der Bundespräsident der oberste Repräsentant des Landes, während der Bundeskanzler die Amtsgeschäfte der Regierung führt.
"Bundeskanzler haben nicht die gleiche repräsentative Rolle wie ein US-amerikanischer oder französischer Präsident", erklärt Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger die deutsche Nüchternheit. "Wenn man sich ihre politische Macht und ihren Einfluss ansieht, könnte man sagen, dass sie mit Premierministern in anderen Ländern vergleichbar sind."
Die Rektorin des Wissenschaftskollegs Berlin fügt hinzu, dass Deutschland auch ein anderes Parteiensystem habe und die Bundeskanzler anders gewählt würden als amerikanische oder französische Präsidenten. Dort knüpfe die Vereidigung noch immer an monarchische Traditionen an.
"In gewisser Hinsicht erinnert mich die Inauguration in den USA an ein vormodernes Krönungsritual. Das haben wir in Deutschland nicht", sagt Stollberg-Rilinger, deren Forschungsschwerpunkt die Rolle von Ritualen, symbolischer Kommunikation und Zeremonien in der frühen Neuzeit ist.
Dunkle Geschichte
Die Vereidigung eines deutschen Bundeskanzlers sei "nüchtern und überhaupt nicht prunkvoll". Das sei in der deutschen Politik generell der Fall, so die Historikerin.
Die Ursache dafür liege in den Ritualen des Nationalsozialismus: "Wenn ich als Deutsche an Rituale denke, fallen mir als Erstes die Nürnberger Parteitage ein, wo Tausende von Menschen mit Fackeln in Reih und Glied marschiert sind. Das ist so dominant im deutschen Geschichtsgedächtnis, und das wollen wir nicht mehr haben."
Grundsätzlich seien Rituale aber wichtig und notwendig in einer Demokratie, weshalb die Wiedervereinigung am 3. Oktober feierlich begangen oder mit Zeremonien an die Schrecken und Opfer der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 erinnert werde.
"Das sind sehr bescheidene, nicht prunkvolle, ruhige, aber sehr wichtige Rituale der deutschen Erinnerungskultur", sagt Stollberg-Rilinger. Die Amtseinführung eines neuen Regierungschefs nehme die deutsche Bevölkerung dagegen nicht als feierlichen Anlass wahr.
Ordentliches Verfahren
Das Verfahren für die Wahl und Vereidigung des Bundeskanzlers ist im 1949 verabschiedeten Grundgesetz festgelegt. Auch, dass für die Regierungsbildung in Deutschland meistens Koalitionen zwischen zwei oder mehr Parteien gebildet werden müssen, spiele eine Rolle: "Die deutsche Gesellschaft ist bei Weitem nicht so gespalten wie die US-amerikanische, was mit unserem Parteiensystem zu tun hat", sagt die Historikerin. Weil hier weniger polarisiert und mehr auf Kompromisse gesetzt werde, seien Einheitsrituale überflüssig.
Nüchtern muss nicht schlecht sein
Sind Feuerwerke oder Salutschüsse bei Vereidigungen in Deutschland also für alle Zeiten ausgeschlossen? Immerhin wurde die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel gerade erst traditionell mit einem militärischen Zapfenstreich verabschiedet.
Alles hänge davon ab, wie sich die Geschichte entwickele, sagt Barbara Stollberg-Rilinger: "Wenn wir eine autoritäre Regierung bekommen, wie es in anderen europäischen Staaten wie Polen oder Ungarn der Fall ist, weiß man nie." Sie sei jedoch zuversichtlich, dass sich in Deutschland mit Blick auf seine besondere historische Verantwortung nichts an den nüchternen Verfahren ändern wird.
Adaption aus dem Englischen: Torsten Landsberg