Ost-Ghuta: "Es geht ums nackte Überleben"
21. Februar 2018DW.com: Wie lässt sich die humanitäre Lage in Ost-Ghuta beschreiben?
Marten Mylius: Die humanitäre Situation ist schon seit geraumer Zeit sehr angespannt und schwierig in Ost-Ghuta. Diese Vorstadt von Damaskus wird seit vier Jahren mehr oder weniger belagert von den Regierungstruppen. In den vergangenen Monaten wurde der Belagerungsring noch einmal enger gezogen. Das heißt: Die verschiedenen Tunnel und Checkpoints wurden zerstört und man kommt gar nicht mehr hinein. Und jetzt in den letzten Tagen hat es natürlich mit dieser militärischen Offensive nochmal eine Eskalationsstufe gegeben, die sehr dramatisch ist für die Leute: Es werden Krankenhäuser angegriffen und Zivilisten sind in einem Ausmaß gestorben, wie wir das in den letzten vier, fünf Jahren nicht gesehen haben. Das ist eine ganz dramatische Zuspitzung der Situation.
Wie viele Menschen leben in Ost-Ghuta? Und wenn Sie von Belagerung sprechen: woran fehlt es besonders?
Wir gehen davon aus, dass dort um die 400.000 Menschen eingeschlossen sind. Nachdem die Tunnel zerstört wurden und die Übergänge geschlossen, sind die Preise für Grundnahrungsmittel dramatisch in die Höhe geschossen. Ein Kilo Reis kostet jetzt viereinhalb Dollar. Das können sich viele Leute überhaupt nicht mehr leisten. Das heißt: Wir sehen eine sich rapide ausbreitende Unterernährung. Wir sehen Frauen, denen die Haare ausfallen, denen die Zähne ausfallen. Wir gehen davon aus, dass mehr als zehn Prozent der Kinder akut mangelernährt sind. Es geht dort wirklich um die ganz essenziellen Dinge: Nahrung und Medikamente. Und es geht in diesen Tagen vor allen Dingen auch um die Sicherheit, ums nackte Überleben.
Könnten denn Menschen das umzingelte, belagerte Ost-Ghuta verlassen, wenn sie das wollten?
Das ist absolut unmöglich. Da kommt man weder heraus noch herein. Da kann man nicht weg. Man kann sich zwar innerhalb von Ost-Ghuta bewegen. Das ist ein relativ dicht besiedelter Satellitenstaat mit einer Fläche von rund 100 Quadratkilometern. Aber auch da gibt es nicht mehr viele sichere Orte - und heraus kommt man schon mal gar nicht.
Ist die Lage in Ost-Ghuta vergleichbar mit der in Aleppo oder vielleicht auch mit der in Mossul?
Ich denke, man kann das sehr gut mit Aleppo vergleichen. Wir haben schon seit längerer Zeit eine militärische Offensive erwartet. Jetzt haben wir Angst, dass auf die Luftangriffe eine Bodenoffensive folgt - Anzeichen dafür gibt es bereits. Das wäre dann eine Parallele zu Aleppo, wo ebenfalls massive Luftangriffe geflogen wurden. Die Menschen konnten nicht heraus; es gab keine Fluchtmöglichkeiten. Erst als die Bodenoffensive startete, wurden Menschen evakuiert.
Ost-Ghuta gehört zu den sogenannten Deeskalationszonen. Was sind denn solche Zonen und Vereinbarungen überhaupt noch wert?
Im Prinzip sind sie gar nichts wert. Zur Vereinbarung gehörte, dass für diese Deeskalationszonen der Zugang für humanitäre Hilfe erleichtert werden sollte, dass die Zonen befriedet werden sollten. Aber es ist genau das Gegenteil eingetreten! Wir erleben eine massive Eskalation der Situation und eine Verschlechterung des humanitären Zugangs. Nach Ost-Ghuta haben wir zuletzt im November einen Konvoi schicken können.
Rechnen Sie damit, dass es irgendwann wieder humanitären Zugang gibt?
Ost-Ghuta ist sehr schwierig, weil es keinen direkten Zugang von den Nachbarländern gibt. Es ist umzingelt von den Truppen des Regimes. Anders ist das zum Beispiel in Idlib, wo man direkt aus der Türkei über die Grenze hinein kommen kann. Man kann dort mit Lieferungen an der Grenze warten und dann den Konvoi reinbringen. Das ist in Ost-Ghuta wesentlich schwieriger. Weil man dann natürlich verhandeln muss mit dem syrischen Regime und den Entscheidungen ausgeliefert ist. Wir haben noch Mitarbeiter, Partner vor allen Dingen, in Ost-Ghuta. Aber aufgrund der Sicherheitslage wurde das ganze Programm jetzt temporär aus Sicherheitsgründen gestoppt.
Was kann die internationale Gemeinschaft denn tun, um dort Zugang zu erzwingen?
Die UNO hat am Dienstag einen einmonatigen Waffenstillstand gefordert und sofortigen Zugang für humanitäre Hilfslieferungen. Jetzt muss diplomatischer Druck aufgebaut werden. Das ist natürlich schwierig. Wir kennen die Konstellationen im UN-Sicherheitsrat. Und der Konflikt hat sich in den vergangenen Jahren derart verkompliziert und internationalisiert, dass die Mittel heute sehr beschränkt sind. Diplomatischer Druck über die humanitäre Lage, über das internationale humanitäre Völkerrecht: Das muss der Ansatzpunkt sein, um eine Feuerpause zu erzwingen.
Marten Mylius ist Nothilfekoordinator bei der Hilfsorganisation CARE für den Nahen Osten und arbeitet von der jordanischen Hauptstadt Amman aus.
Die Fragen stellte Matthias von Hein.