Osteuropa zieht Autobauer an
24. Oktober 2016Wer vor ein paar Jahren von der westpolnischen Stadt Posen weiter östlich in Richtung des kleinen Ortes Wrzesnia fuhr, sah auf dem Weg vor allem eines: Landwirtschaft. Große Äcker, kleine Wirtschaftswege, vereinzelt Höfe - so weit das Auge reicht. Nichts, rein gar nichts erinnerte dort an ein boomendes Industriegebiet. Dann kam Volkswagen. Und kippte fast eine Milliarde Euro auf die Äcker bei Wrzesnia.
Die Marke VW-Nutzfahrzeuge (VWN) zog dort in Rekordzeit für gut 800 Millionen Euro ein neues Werk für den Großtransporter Crafter hoch. Den ließ VWN lange bei Daimler bauen - als Mercedes Sprinter mit VW-Logo. Nun geht man über zum Alleingang. 100.000 Crafter soll die Fabrik in Wrzesnia schon 2018 ausspucken, bis zu 70.000 Fahrzeuge im nächsten Jahr. Ein vielversprechendes Unterfangen - denn große Transporter haben auch große Gewinnspannen.
Erfolgsfaktor Mitarbeiter
Wenn VWN-Chef Eckhard Scholz über das neue Werk spricht, gerät er ins Schwärmen - über fleißige, hochmotivierte und bestens qualifizierte Mitarbeiter. Fehlzeiten-Quote? Unter ein Prozent. "Das ist nicht normal", sagt er. Daheim im VWN-Stammwerk in Hannover liege die Quote bei sechs bis sieben Prozent. Über die VW-Löhne in Polen will Scholz nicht reden. Klar ist: Sie betragen nur Bruchteile des deutschen Niveaus - und das wenige Stunden Autofahrt von Berlin entfernt.
Es scheint, als habe VWN in Wrzesnia alles richtig gemacht. Auch die Türkei soll als Standort für das Crafter-Werk im Gespräch gewesen sein. Aber nun, im westlichen Osteuropa, wirkt alles passend. Am Montag ist feierliche Werkseröffnung mit Startschuss der Produktion.
Orientierung Richtung Ausland
Obwohl die deutschen Autohersteller noch einen großen Teil ihrer Mitarbeiter hierzulande beschäftigen, hat die Entscheidung für das Ausland inzwischen System. Fast zwei Drittel ihrer Fahrzeuge bauen die deutschen Autohersteller inzwischen im Ausland. In diesem Jahr liefen bis August 6,5 Millionen Pkw mit deutschem Label im Ausland vom Band, in Deutschland lediglich 4,4 Millionen.
Und Osteuropa wächst: Nach einer Aufstellung der Unternehmensberatung EY haben die deutschen Anbieter seit 2010 gut neun Milliarden Euro in ihre Werke in der Region investiert und gut 14.000 Jobs geschaffen. "Die Präsenz der deutschen Hersteller ist allerdings noch vergleichsweise gering", heißt es bei Roland Berger. Insgesamt wurden in Osteuropa im Jahr 2015 rund 6,7 Millionen Pkw produziert.
Nicht nur deutsche Autobauer gehen nach Osteuropa
Neben der VW-Tochter Skoda, die die größten Produktionsvolumina aufweist, finden sich unter den fünf Größten Hyundai, Renault, Fiat und Kia. VW selbst folgt als größter deutscher Produzent in Osteuropa erst auf Platz sieben. Das könnte sich ändern - so die Prognose.
Denn neben Volkswagen plant auch Daimler künftig mehr Werke im Osten Europas. Im polnischen Jawor westlich von Breslau bauen die Stuttgarter bis 2019 ein neues Motorenwerk. Der 2012 eröffnete Standort Kecskemet 100 Kilometer südlich von Budapest bekommt für eine Milliarde Euro eine zweite Produktion. Darüber hinaus fertigt eine Daimler-Tochter in Rumänien Getriebe und Motorenteile.
Auch Audi hat schon gut acht Milliarden Euro in sein Werk in Ungarn gesteckt. In Györ arbeiten inzwischen mehr als 11.000 Menschen. 2015 baute Audi dort zwei Millionen Motoren und 160.000 Autos. In einer Auftragsfertigung in Volkswagens Werk in Bratislava rollt außerdem der Audi Q7 vom Band. Dort, in der slowakischen Hauptstadt, baut VW auch eines seiner margenstärksten Modelle: den Touareg.
Polen kennt nicht nur VWN schon gut aus Posen (Poznan), wo der Caddy und der Transporter entstehen. Auch die Konzerntöchter für die schweren Nutzfahrzeuge - MAN und Scania - sind in Polen daheim, genauso wie die 100-prozentige Konzerntochter Sitech, die Sitze baut. Gut ein Dutzend produzierende Standorte hat Volkswagen in Osteuropa.
Einzig BMW fällt aus dem Bild. Die Bayern bauen ihre Autos in Europa nur in Deutschland, England und Österreich. Die Produktion folge dem Markt, begründet eine Sprecherin die Entscheidung. Nur in Russland lässt BMW vom russischen Partner Avtotor in Kaliningrad 3er und 5er Limousinen sowie mehrere Geländewagen der X-Reihe fertigen.
Arbeitskosten sehr niedrig
Schlagendes Argument für die Standorte im Osten sind die Arbeitskosten. Sie liegen laut einer Aufstellung des Verbands der Automobilindustrie (VDA) weit unter denen Deutschlands. Dort belaufen sich die Kosten pro Arbeiter und Stunde auf knapp 52 Euro, während in Polen und Ungarn nicht einmal zehn Euro fällig werden. Nur in Rumänien kostet Arbeit mit 5,90 Euro noch weniger.
Weitere Pluspunkte seien die Qualifikation der Arbeiter und die Qualität lokaler Zulieferer, heißt es bei Roland Berger. Dabei haben einige Autohersteller Berichten zufolge schon Schwierigkeiten, gutes Personal zu finden. Auch wachsende Probleme könnten durch Korruption und ein unsicheres politisches Umfeld entstehen.
Hinzu kämen höhere Arbeitsflexibilität und laxere Richtlinien, sagt Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer von der Uni Duisburg-Essen. Er sieht noch einen weiteren Grund: "Das ist der Weg in den weiteren Osten - also nach Russland." Sollte sich die russische Konjunktur erholen, habe der Markt ein Potenzial von fünf Millionen Autos.