OSZE-Berichterstatter für Neuwahlen
9. November 2020In Belarus protestieren seit Monaten Zehntausende gegen die Präsidentenwahl, bei der sich Amtsinhaber Alexander Lukaschenko zum Sieger erklärt hatte. Für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) untersuchte der österreichische Völkerrechtler Wolfgang Benedek die Vorwürfe von Wahlfälschungen und Menschenrechtsverletzungen. 17 OSZE-Mitgliedsländer haben ihn im Rahmen des sogenannten Moskauer Mechanismus damit beauftragt. Anfang November stellte Benedek dem Ständigen Rat der OSZE die Ergebnisse vor.
DW: Herr Benedek, Sie haben für Ihren Bericht 14 Tage Zeit gehabt. Sie konnten nicht nach Belarus reisen, weil Ihnen die dortige Regierung die Einreise verweigert hat. Wie schwer war es für Sie, die Lage aus der Ferne einzuschätzen?
Wolfgang Benedek: In diesem Fall war es nicht besonders schwierig, weil es eine Vielzahl an öffentlich zugängigen Quellen gibt, und weil es Teil des Moskauer Mechanismus ist, dass ein Informationskanal über ODIHR (OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte - Anm.d.Red.) geöffnet wird. Das ist die Organisation in Warschau, die sich mit Menschenrechten im Rahmen der OSZE beschäftigt. Über diesen Kanal habe ich mehr als 700 Mitteilungen erhalten, zum Teil mit Anhängen, Fotos und Videos. So haben ich ein sehr breites Spektrum an Wahrnehmungen bekommen. Darüber hinaus haben mir Menschenrechts-NGOs aus Belarus sowie weitere internationale NGOs ebenfalls ihre Berichte zur Verfügung gestellt. Ich hatte eine Fülle an Material, dass man abgleichen musste und feststellen konnte, dass sich die Vorwürfe in ähnlicher Weise quer durch das ganze Material ziehen. Es war kein Problem, die Vorwürfe zu bestätigen.
Sie kommen in Ihrem Bericht zu dem Schluss, dass es ausreichend Beweise für Wahlmanipulationen gibt. Was konnten Sie herausfinden?
Bezüglich der Wahlfälschungen haben wir eine Reihe von Berichten von zivilgesellschaftlichen Initiativen erhalten, die Wahlbeobachtung innerhalb von Belarus betrieben haben. Diese Initiativen haben sich gebildet nachdem ODIHR nicht wie üblich die Wahlen beobachten konnte (Die belarussische Regierung hatte die Einladung an ODIHR zu spät verschickt - Anm.d.Red.). Es gab auch eine eingeschränkte internationale Wahlbeobachtung durch EU-Diplomaten. Aus diesen Berichten, die zum Teil sehr detailliert sind und 30-40 Seiten umfassen, zusammen mit Mitteilungen von Einzelpersonen, die in Wahlkommissionen tätig waren oder versucht haben, die Wahl zu beobachten, ergibt sich ein ziemlich klares Bild. Dazu kommt, dass einige Kandidaten für die Präsidentschaftswahl schon im Vorfeld ausgeschaltet und nicht zugelassen worden waren. Die Sicherheitskräfte waren schon vor den Wahlen sehr scharf gegen oppositionelle Kandidaten und ihre Wahlkampfveranstaltungen vorgegangen.
Welche Beweise konnten Sie über Menschenrechtsverletzungen nach der Wahl sammeln?
Dazu gibt es eine Fülle von Beweisen in Form von Zeugenberichten von Betroffenen, Berichten von zivilgesellschaftlichen Organisationen und internationalen NGOs wie etwa der Weltorganisation gegen Folter in Genf. Jeder, der will, findet im Internet Berichte, aus denen ersichtlich wird, wozu die exzessive Gewalt führt.
Sie schlagen vor, Neuwahlen durchzuführen und empfehlen anderen Ländern, das bisherige Wahlergebnis nicht anzuerkennen und geflüchtete belarussische Bürger aufzunehmen. Das passiert bereits. Was empfehlen Sie noch?
Die wichtigsten Forderungen betreffen die sofortige Einstellung der Gewalt, die Freilassung der Gefangenen, insbesondere derjenigen, die aus politischen Gründen festgehalten werden, und die Aufarbeitung dieser Menschenrechtsverletzungen. Bis jetzt ist kein einziger Polizist oder Verantwortlicher vor Gericht gestellt worden, obwohl es hunderte Beschwerden gegeben hat. Ich sehe auch die Notwendigkeit für die Einrichtung einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission, die den Beschwerden im Einzelnen, auch mit der Hilfe von Experten, nachgeht.
Auf welcher Grundlage soll eine solche Kommission agieren? Und was tun, wenn Belarus nicht mitmacht?
Im Idealfall sollten aus meiner Sicht Experten der Vereinten Nationen, des Europarates, etwa des Anti-Folter-Komitees, und der OSZE zusammenwirken. Darüber hinaus können auch unabhängige Experten aus der Zivilgesellschaft mitmachen. Es ist offen, inwieweit diese Organisationen sich beteiligen wollen oder nur Experten zur Verfügung stellen. Dann könnte es eine zwischenstaatliche Initiative sein, die von interessierten Staaten gestartet wird. Ob Belarus bereit ist, mit einer solchen Kommission zusammen zu arbeiten, darf für das gegenwärtige Regime bezweifelt werden. Aber es stellt sich die Frage, wie lange dieses Regime noch im Amt sein wird. Die Proteste gehen weiter und mein Eindruck ist, dass die Zeit für dieses Regime langsam abläuft.
Sie haben hunderte Mittelungen erhalten, auch von Betroffenen. Welche Schicksale haben Sie besonders bewegt?
Ich denke an einen 15-jährigen Jungen, der so zusammengeschlagen worden ist, dass er im Krankenhaus gelandet ist und möglicherweise bleibende Schäden davon tragen wird. Er wurde dann nochmals verhaftet und man hat versucht ihm vorzuwerfen, er habe die Sicherheitskräfte angegriffen, was überhaupt nicht bewiesen ist. Er hat inzwischen das Land verlassen können, um medizinische Hilfe zu erhalten. Ich denke auch an den Blumenverkäufer, der an einem Samstag, wenn die Demonstrationen der Frauen stattfinden, die meistens Blumen in den Händen tragen, einen Teil dieser Blumen geliefert hat und dann von der Polizei abgeholt und so zusammengeschlagen worden ist, dass er ins Krankenhaus musste und dort seine eigene Frau nicht mehr erkannt hat. Ich denke an die Frau, die ihren Sohn im Gefängnis aufsuchen wollte und dann selbst eingesperrt wurde, stundenlang nackt dort stehen musste, miterleben musste, wie ihr Mann geschlagen wurde, wie um sie herum Menschen gefoltert worden sind. Es gibt viele solche Schicksale.
Wolfgang Benedek ist Professor für Völkerrecht an der Universität Graz in Österreich und Berichterstatter der OSZE.
Das Interview führte Roman Goncharenko.