Paavo Järvi :"Jedes Jahr ist Beethovenjahr"
22. Dezember 2020Der estnische Dirigent Paavo Järvi ist bekannt für seine Liebe zum Detail und die akribische Auseinandersetzung mit den Komponisten und ihren Werken. Seit 2004 ist er Chefdirigent der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Zusammen mit dem weltweit renommierten Orchester hat er das viel beachtete Beethoven-Projekt, die Sinfonien von Robert Schumann und zuletzt den Brahms-Zyklus realisiert. Der DW-Film zum Beethoven-Projekt wurde preisgekrönt. Wegen der Corona-Pandemie konnten sämtliche im Rahmen des Beethoven-Jubiläums 2020 geplanten Aufführungen des Beethoven-Zyklus nicht stattfinden. Im Interview mit der DW erzählt der Stardirigent, wie er die musikalische Zukunft nach Corona sieht.
DW: Anlässlich des 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven wollten Sie mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und Beethovens Neun Sinfonien noch einmal auf Tournee gehen. Konzerte in Bremen und Frankfurt wurden vom Frühjahr auf den Herbst verschoben und jetzt mit dem neuen Lockdown endgültig abgesagt. Ebenso wie die geplanten Konzerte in Tokio. Das war sicher enttäuschend für Sie und das Orchester.
Paavo Järvi: Natürlich hatten wir die Hoffnung, dass sich die Konzerte noch irgendwie realisieren lassen würden. Aber der Musikbetrieb geht ja weiter und legt dann nicht mehr unbedingt den Fokus auf Beethoven. Wenn es noch zu einer Aufführung des Beethoven-Zyklus kommt, speziell mit der Deutschen Kammerphilharmonie, die sehr bekannt ist für dieses Repertoire, dann wahrscheinlich am ehesten in Tokio. Mein Traum wäre es auch, den in Frankfurt geplanten Zyklus noch einmal aufzugreifen. Aber gerade jetzt gibt es einen enormen Rückstau all der Projekte, die nicht stattfinden konnten. Wir müssen abwarten, wie die Organisatoren weiter verfahren. Das wird wahrscheinlich in den nächsten Monaten entschieden.
Ich dachte, in Deutschland wäre es einfacher, Beethoven-Konzerte nachzuholen, weil das Beethoven-Jahr wegen der Ausfälle in der Corona-Pandemie offiziell bis September 2021 verlängert wurde.
Ich hoffe es, aber in Wahrheit ist ja jedes Jahr ein Beethovenjahr. Beethoven wird immer gefeiert und gespielt, da gibt es keinen Mangel. In Deutschland wird noch mal ein Akzent gesetzt. Da fände ich es allerdings wichtiger, Beethoven-Stücke zu spielen, die selten gespielt werden. Das Ganze einmal anders aufziehen und mit anderen Sachen zu kombinieren: Das wäre eine interessante Idee. Aber das sind reine Spekulationen. Im Moment haben wir eigentlich keine Idee, wie wir in den Musikbetrieb zurückkommen. Da sieht es nicht sehr vielversprechend aus.
Viele Musiker sagen, sie hätten den Lockdown genutzt, ganz andere Stücke zu spielen als im Konzertbetrieb oder neues Repertoire zu entdecken. Haben sie die Zeit für die seltenen Beethoven-Stücke genutzt?
Ich persönlich habe die Zeit genutzt, um mich mit neuem Repertoire zu befassen. Wenn man jede Woche dirigiert und jede Woche ein anderes Programm spielt, bleibt dafür sehr wenig Zeit. Ich habe mich tiefgründiger mit einem Repertoire beschäftigt, das ich vorher noch nie ins Auge gefasst hatte. Da gibt es Komponisten, mit denen wir kaum in Berührung kommen.
Ich habe mir viel Musik des 20. Jahrhunderts angeschaut, von Witold Lutosławski über Sergei Prokofjew bis hin zu Krzysztof Penderecki, zu Arthur Honegger oder Bohuslav Martinů. Das sind alles Komponisten, deren Namen man zwar kennt, die aber kaum jemand aufführt. Es gibt einiges an bemerkenswert guter Musik von diesen Komponisten. Und da sind noch mehr. Ich studiere gerade Eduard Tubins Sinfonien, sehr unterschätzte, wundervolle Sinfonien aus Estland. Das Repertoire ist so umfangreich, dass es mehr als ein Leben braucht, um nur annähernd ein bisschen davon erkunden zu können. Da gibt es einfach nicht genug Zeit.
Es sei denn, Corona wird den Musikbetrieb noch länger so stark einschränken…
Ja, das Positive daran ist - abgesehen natürlich von den Nöten der Musiker - etwas Zeit zu haben. Nicht nur um neues Repertoire zu lesen und zu erforschen, sondern auch für Podcasts, Videogespräche mit Studierenden, mit jungen Musikern oder Dirigenten. Bei Diskussionen im Netz über verschiedene Komponisten war ich überrascht, wie viele Leute sich zugeschaltet haben, nur um über Musik zu sprechen und über Komponisten zu diskutieren.
Was denken Sie, wie Corona die Musikwelt verändern wird? Ob es danach zum Beispiel noch die großen Tourneen geben wird?
Das ist interessant zu beobachten. Es gibt viele Spekulationen und viele Leute versuchen herauszufinden, wie es weiter geht. Dazu gehört auch die Idee, dass die Orchester nicht mehr so viel auf Tournee gehen sollen, sondern mehr für das Publikum vor Ort spielen. Es geht darum, auch ökologisch verantwortungsbewusst zu handeln, indem man nicht so oft zu weltweiten Veranstaltungsorten fliegt.
Das ist verständlich, aber wir werden weiter Anschluss in der Welt suchen, um unsere Musik zu anderen Orten zu bringen. Es wird nicht einfach sein, diese Denkweise zu ändern. Jedes Orchester und jeder Solist möchte reisen. Da müssen wir herausfinden, auf welche Weise das ökologisch verantwortungsvoller möglich ist.
Auf der anderen Seite stecken die Welt und die Industrie finanziell gesehen in solchen Schwierigkeiten, dass viele Orchester wahrscheinlich gar nicht fähig sind, auf Tour zu gehen, weil sie einfach nicht das Geld haben. Und auch die Unterstützer haben kein Geld. Allein deshalb wird sich die Struktur für die nächsten Jahre ganz offensichtlich verändern.
Es gab in diesem Jahr sehr viele digitale Ersatzkonzerte. Auch das könnte ja eine Zukunft haben.
Streams sind großartig als eine Art Plan B, denn für die Mikrofone zu spielen ist nicht dasselbe wie vor Publikum. Wenn ich die Übertragung eines echten Konzertes sehe über Livestream, dann bin ich froh darüber. Aber wenn etwas extra für den Livestream produziert wird, ohne Publikum, alle sitzen weit auseinander und mit Masken, dann ist das eine Erinnerung an eine Notsituation, in der es das Beste war, was man tun konnte.
Außerdem muss man für einen Stream ein Videoteam anheuern, Audiospezialisten, Redakteure und Beleuchter. Das ist finanziell auch problematisch. Vielleicht können sich das einige der großen Orchester leisten, aber die meisten anderen nicht.
Werden Sie aus dieser Pandemie, die ja noch nicht vorbei ist, für die Zukunft etwas mitnehmen?
Wenn ich etwas in dieser Pandemie gelernt habe, dann das Publikum mehr zu schätzen. Das Publikum ist so wichtig in einer Konzertsituation. Beethovens Eroica zu spielen - und dann gibt es am Ende keinen Applaus und nichts... Das ist so stimmungslos, das ist einfach nicht so, wie es sein sollte.
Das Gespräch führte Gaby Reucher.