"Ein deutsches Requiem" von Brahms
9. April 202010. April 1868. Johannes Brahms und seine lebenslange Freundin Clara Schumann gehen Arm in Arm den Mittelgang im St. Petri Dom zu Bremen entlang. Es sieht beinahe so aus, als wollten sie heiraten. Sie nimmt vorne Platz und er ergreift den Dirigentenstock - um einen Chor mit 200 Stimmen und ein großes Orchester bei der Uraufführung seines neusten Werkes zu leiten: Ein deutsches Requiem, Opus 45.
Weiche, dunkle, ruhige Klänge strömen zunächst vom Altarraum, später folgen stürmische Passagen. Und spätestens beim vierten Satz haben viele Zuhörer Tränen in den Augen. Für den deutschen Komponisten Johannes Brahms, der zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt ist, der Schlüsselmoment seiner Laufbahn.
10. April 2018. Genau 150 Jahre nach der Uraufführung leitet Maestro Paavo Järvi die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen am selben Ort in einer Aufführung jenes Werks, das längst zu einem Eckpfeiler des klassischen Repertoires geworden ist. Die Resonanz ist enthusiastisch: Für den Sender Classic FM London ist es "ein kraftvoller Moment der Musikgeschichte". Und der Musikkritiker der Frankfurter Allgemeine Zeitung schwärmt: "Selten hört man eine so aufschlussreiche Aufführung!"
10. April 2020. Die DVD des Konzert-Mitschnitts soll bald erscheinen. Da öffentliche Aufführungen undenkbar sind solange die Coronavirus-Pandemie grassiert und große Bereiche des Kulturlebens ins Internet gewandert sind, bietet die Deutsche Kammerphilharmonie die Aufführung als On Demand-Stream auf ihrer Webseite an. Das Streaming-Angebot startete an diesem Karfreitag (10.04.2020) um 10 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit und dauert insgesamt 48 Stunden.
"Selig sind die Trauernden"
Aber was hat es mit dem ungewöhnlichen Werknamen auf sich: "Ein deutsches Requiem"? Vertonungen der Heiligen Messe – und der Totenmesse – gibt es seit Jahrhunderten. Bei Brahms handelt es sich aber nicht um eine Übersetzung der lateinischen Messe.
Der Humanist und Agnostiker traf seine ganz persönliche Auswahl von Bibeltexten und vertonte sie in seiner Muttersprache. Für den verschlossenen, wortkargen Norddeutschen, der selten über persönliche Dinge sprach oder Gefühle eher nicht in Worte kleidete, war die Textauswahl schon fast ein persönliches Bekenntnis.
Der Schlüsselbegriff im Werk: selig, das Wort, mit dem Brahms' Requiem beginnt und endet: Selig sind, die da Leid tragen heißt der erste Satz, und das Finale: Selig sind die Toten. Ein Wort, das vieles bedeuten kann, von "gesegnet" bis "glücklich". Das passt zur Botschaft des Werks insgesamt. Darin hört man zwar Momente der Qual und des Leidens, aber auch viel Licht und Trost.
Die Mutter und der Mentor
Brahms hatte sich lange mit dem Gedanken getragen, ein Requiem zu komponieren, aber der auslösende Moment scheint der Tod seiner Mutter am 2. Februar 1865 gewesen zu sein. Der Komponist fuhr von Wien in seine Heimatstadt Hamburg, kam jedoch zwei Tage zu spät an, um sich von ihr noch zu Lebzeiten zu verabschieden.
Wenig später nach Wien zurückgekehrt, wurde Brahms zu Hause von einem Freund besucht. Dieser fand ihn am Klavier sitzend vor. Während Brahms die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach spielte, erwähnte er kurz seine Mutter. Tränen strömten über sein Gesicht. Aber er spielte trotzdem weiter.
Johannes Brahms schickte in diesen schweren Tagen einen ersten Entwurf seines Werkes Ein deutsches Requiem an Clara Schumann, der er oft Einblick in seine Komponisten-Werkstatt gewährte. Und er tauschte sich gern mit ihr über kompositorische Ansätze aus.
Ein Teil des Requiems hatte seinen Ursprung allerdings schon Jahre davor, vor allem der erschütternde, gespenstische zweite Satz zu den Worten "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras." Erste Skizzen datieren auf das Jahr 1856, als Brahms unter den Eindruck des Selbstmordversuchs seines Freundes und musikalischen Mentors Robert Schumann stand.
Die Arbeit an diesem Werk dauerte noch ein Jahr, immer wieder durch andere Projekte unterbrochen. Einen Vorgeschmack lieferte eine Aufführung der ersten drei Sätze in Wien am 1. Dezember 1867. Es war weniger als vielversprechend: zum Schluss war im Publikum nur ein Zischen und Raunen zu hören.
Trost von einem Agnostiker
Brahms ahnte, dass seine Karriere – und sein Platz in der Musikgeschichte – von der bevorstehenden Präsentation dieses Gesamtwerkes abhängen würde. Nach Sichtung der Partitur bot der Bremer Musikdirektor Karl Reinthaler seine gesammelten musikalischen Kräfte auf - für die Aufführung im Dom zu Bremen am Karfreitag 1868.
Reinthaler hatte das Stück ganze drei Monate mit Chor und Orchester geprobt, ehe er die Leitung an Brahms zum Feinschliff und zur Erstaufführung überließ. Nichts wurde dem Zufall überlassen.
Aber es gab Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Musikern. In höflichen Worten legte Reinthaler dem Komponisten nahe, er möge doch noch etwas hinzu komponieren. Für eine Aufführung am Karfreitag fehle die zentrale Botschaft über die Erlösung der Menschheit durch den Tod Christi.
Aber der Agnostiker Brahms wollte nichts davon hören und antwortete wortkarg, er habe auf diese Verweise "mit allem Wissen und Willen" verzichtet.
Sehr persönliche Botschaft
Den Titel "Ein deutsches Requiem" hatte Brahms im Wortsinn gemeint: Nicht das Requiem, sondern ein Requiem – keine mustergültige, sondern seine ganz persönliche Botschaft. Und eine profund bewegende Botschaft. Verzweiflung und Trauer kommen darin zum erschütternden Ausdruck.
Das letzte Wort im Finale ist jedoch sanft und tröstend: "Selig sind die Toten…dass sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach." Keine Erlösung also, einfach Ruhe.
Während aktuell die Corona-Pandemie um sich greift und man täglich von Tausenden von Toten hört, werden viele Menschen in dieser Zeit Verluste erleiden und Trost suchen. Aber man muss nicht trauern um das Requiem von Brahms zu schätzen. Man braucht nur offene Ohren – und die Bereitschaft, das Herz der Musik zu öffnen.
Im Stream aus dem Innenraum des Bremer Doms mit seiner beeindruckenden Akustik können Sie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und den Lettischen Staats-Chor "Latvija" unter der Leitung von Paavo Järvi hören. Die Gesangssolisten sind die rumänische Sopranistin Valentina Farcas und der deutsche Bariton Matthias Goerne.
Und hier geht es zur Webseite der Deutschen Kammerphilharmonie. Dort finden Sie den Streaming-Button, um das Brahms-Konzert anzuhören - für 48 Stunden online abrufbar.