Studie: Bayers "aggressive Steuerpraxis"
4. März 2021Vielleicht liegt es ja am Wort Paradies? Jedenfalls denken wohl die meisten Menschen bei Steuerparadiesen an Briefkastenfirmen unter Palmen auf karibischen Inseln.
Kaum jemand aber denkt an Monheim am Rhein oder Schönefeld bei Berlin. Und doch sind die beiden Orte laut einer neuen Studie genau das: innerdeutsche Steuerparadiese, die Konzerne wie Bayer geschickt nutzen, um weniger Steuern zu zahlen.
"Schädlicher Steuerwettbewerb - Wie Bayer die Unternehmensbesteuerung in Europa manipuliert" lautet übersetzt der Titel der Untersuchung, die auf Englisch erschienen ist. Auftraggeber ist die Fraktion der Grünen / Europäische Freie Allianz (EFA) im Europäischen Parlament. Zuvor hatte die Fraktion bereits Konzerne wie Ikea, BASF oder Zara unter die Lupe nehmen lassen, immer mit dem Ziel, Beispiele für aggressive Steuervermeidung zu dokumentieren.
"Besonders aggressiv"
Nun also der Pharma- und Agrochemiekonzern Bayer, der seine Zentrale in Leverkusen (Nordrhein-Westfalen) hat und gerade erst den größten Verlust in seiner Unternehmensgeschichte vermelden musste. "Was wir bei Bayer gefunden haben, ist besonders aggressiv", sagt Sven Giegold, Finanzexperte der Grünen im Europäischen Parlament, zur Steuerstrategie des Unternehmens.
Die Studie zeige erstmals, wie Bayer über einen Zeitraum von zehn Jahren Unternehmenstöchter innerhalb Deutschland verlagert habe, um von möglichst günstigen Steuersätzen zu profitieren, so Giegold zur DW. In dieser Zeit sei es dem Unternehmen gelungen, seinen effektiven Steuersatz um zehn Prozentpunkte zu verringern und rund drei Milliarden Euro an Steuern zu sparen.
Die Studie wirft dem Konzern kein illegales Verhalten vor. Aber Bayer verstehe es besonders gut, die Schwächen des Steuersystems zu nutzen, um Kommunen gegeneinander auszuspielen. "Bayer treibt den Steuerwettbewerb zusätzlich an, indem sie Unternehmensteile verlagern", so Giegold.
In Deutschland setzen sich Unternehmenssteuern aus verschiedenen Komponenten zusammen. Der Bund will rund 15 Prozent der Gewinne (Körperschaftssteuer). Zusätzlich erheben die Kommunen eine Gewerbesteuer, deren Höhe sie selbst festlegen. Vereinfacht gesagt liegt sie bei mindestens sieben Prozent, im Durchschnitt bei gut 14 Prozent.
Paradiese in der Nähe
Von der Bayer-Zentrale ins benachbarte Monheim sind es gerade einmal 20 Kilometer. Im Jahr 2012 begann Monheim, seinen Gewerbesteuersatz drastisch zu senken, inzwischen ist er der niedrigste in ganz NRW und liegt bei 8,75 Prozent. Seitdem haben sich zahlreiche Firmen in Monheim angesiedelt, auch Bayer hat dort fünf Tochterfirmen.
Ähnlich niedrig (8,4 Prozent) ist die Gewerbesteuer in Schönefeld südlich von Berlin. Hier hatte Bayer sogar zehn Tochterfirmen angemeldet.
Das änderte sich Ende 2019, als die Stadt Leverkusen ihren Steuersatz halbierte und dem Niveau Monheims und Schönefelds anpasste. Bayer reagierte prompt und verlagerte seine zehn Tochterfirmen von Schönefeld zurück nach Leverkusen.
Das geht besonders einfach, wenn mit den Bayer-Firmen keine Maschinen oder Fabriken verbunden sind. Die Töchter in Schönefeld etwa kümmerten sich um die Verwaltung der Konzernimmobilien.
Nun ist dieser Steuerwettbewerb völlig legal und auch politisch gewünscht. Einzelne Kommunen fahren damit sogar sehr gut: Monheim etwa ist schuldenfrei, und der öffentliche Nahverkehr und Kindertagesstätten sind dort kostenlos.
"Das geht aber auf Kosten der Nachbarn", argumentiert Giegold. "Denn das, was Monheim und jetzt auch Leverkusen machen, setzt natürlich auch die Steuergestaltung in Dormagen und Krefeld unter Druck." In beiden Städten hat Bayer Niederlassungen. "Das gilt aber auch für die größeren Städte Düsseldorf und Köln. Am Ende ist es eine Abwärtsspirale, die keinem gut tut und klamme Kommunen noch ärmer macht."
Der Europapolitiker verweist darauf, dass dieselbe Abwärtsspirale auch innerhalb der Europäischen Union zu beobachten ist. "Luxemburg und Irland geht es mit ihrem Geschäftsmodell (niedriger Steuern - d. Red.) ja auch ökonomisch gut." Auch die Niederlande sind bekannt für niedrige Unternehmenssteuern, die 2021 noch weiter gesenkt wurden. Hier hat Bayer laut Studie allein 27 Tochterfirmen (siehe Grafik oben).
Bayer weist die Vorwürfe zurück
Bayer selbst wollte der DW kein Interview zu den Vorwürfen geben. Ein Sprecher verwies auf die Reaktion seines obersten Steuerexperten, Bernd Peter Bier. Der hatte die Studie als "pure Polemik", die Methodik als "unseriös" und die "vermeintliche Steuerersparnis" als "völlig konstruiert" bezeichnet, ohne allerdings einzelne Zahlen zu widerlegen.
"Mit seinen Standortentscheidungen bewegt sich Bayer innerhalb des Rahmens, den die Politik vorgibt", schreibt Bier weiter, "Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht schützen und fördern den kommunalen Steuerwettbewerb".
Außerdem werde in der Studie "ausgeblendet, dass die Steuersätze sich aufgrund politischer Entscheidungen teilweise erheblich ändern", schreibt Bier und verweist auf die deutliche Senkung der Unternehmenssteuern in den USA 2017.
"Unternehmenssteuersätze schwanken nicht, sie sinken", sagt dagegen der Grünen-Politiker Giegold. Seit Beginn der 1980er Jahre habe sich die Steuerlast der Unternehmen in Europa mehr als halbiert. "Die Differenz zahlen wir alle durch weniger gute öffentliche Dienstleistungen. Den Kommunen fehlt das Geld für die Infrastruktur, für Bildung, für eine nachhaltige Wohn- und Verkehrspolitik."
Weltweit ist die Entwicklung ähnlich, wie wissenschaftliche Studien zeigen. Multinationale Unternehmen (MNU) haben davon die größten Vorteile. Einfacher als kleine Firmen können sie Standorte länderübergreifend verlagern, auch spielen immaterielle Werte wie Patente bei ihnen eine größere Rolle.
Was ist fair?
Im Fall Bayer aber scheint Deutschland trotzdem vom Status Quo zu profitieren. In diesem einen Punkt sind sich die Studienautoren und der Konzern zumindest grundsätzlich einig. Denn obwohl Bayer in Deutschland nur einen geringen Teil seines weltweiten Umsatzes macht (rund sechs Prozent), zahlt es hierzulande den Großteil seiner Unternehmenssteuern - laut Konzern "durchschnittlich mehr als 50 Prozent", laut Studie sogar "fast 60 Prozent".
Das "beschreibt die herausragende Bedeutung Deutschlands für die Bayer AG eindrücklich", schreibt ein Konzernsprecher per Email an die DW.
Europa-Politiker Giegold findet mit Blick auf den europäischen Binnenmarkt weniger Grund zum Jubeln. Er plädiert deshalb für eine einheitliche Unternehmensbesteuerung in der EU ein, "mit gemeinsamen Steuersätzen und gemeinsamen Regeln".
Einzelne deutsche Firmen mögen dann mehr Steuern in anderen EU-Ländern zahlen, gleichzeitig aber würde die Steuervermeidung zurückgehen und das System insgesamt fairer, auch für kleinere Firmen. "Unterm Strich wird das für Deutschland gut ausgehen", so Giegold.
Die Bundesregierung hat bei gemeinsamen europäischen Steuerplänen bisher immer gebremst. Sie hofft auf konkrete Standards in einem größeren Rahmen, etwa der OECD oder der G20, wo das Thema seit Jahren diskutiert wird.