Die unerwünschten Flüchtlinge
11. Februar 2014Das, was im Damaszener Vorort Yarmouk passiert, steht für die Tragödie, die sich in ganz Syrien abspielt. Es herrscht Gewalt, mangelnde medizinische Versorgung und Unterernährung. Eine Bewohnerin erzählt, dass man Gras gegessen habe. Andere berichten davon, Tierfutter zu sich genommen zu haben.
Yarmouk war vor dem Krieg in Syrien ein geschäftiger, lebendiger Ort. Der gut zwei Quadratkilometer große Stadtteil wurde zu einem inoffiziellen Flüchtlingslager für Palästinenser, die nach dem Unabhängigkeitskrieg Israels 1948 auch nach Syrien geflohen waren. Vor dem Syrien-Krieg lebten dort 160.000 palästinensische Flüchtlinge - vom Arzt bis zum Tagelöhner - Seite an Seite mit Syrern aller Konfessionen.
Schauplatz des Krieges
Fast drei Jahre nach Beginn des Krieges rettet sich, wer kann. So hat es auch Mohameds Mutter getan. Vor einigen Monaten war sie mit seinen zwei kleinen Geschwistern geflohen. Den 15-jährigen Mohamed hatte sie in Yarmouk bei seinem Onkel zurück gelassen - bis dieser kurz darauf verhaftet wurde. Wer ihn festnehmen ließ, weiß man nicht, und auch nicht, wo er ist.
Mohamed musste sich seither alleine durchgeschlagen. Schließlich fanden ihn im Januar 2014 zwei freiwillige Mitarbeiter des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA: United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees), nahmen ihn mit und versorgten ihn. "Mohamed wäre beinahe verhungert", erzählt Christopher Gunness, Sprecher von UNRWA. Er habe ausgemergelt und schlapp ausgesehen. "Er hat meine Kollegen angefleht, ihn nicht mehr zurück ins Zentrum von Yarmouk zu bringen, es sei die Hölle für ihn", berichtet Christopher Gunness. Denn im Inneren des Stadtteils liefern sich verschiedene verfeindete Gruppen erbitterte Gefechte - und das schon seit Monaten. Wer Yarmouk kontrolliere, so Gunness, der kontrolliere auch Damaskus. Denn der Ort bildet das Tor zur syrischen Hauptstadt.
Oppositionelle Milizen hatten bereits Ende 2012 das inoffizielle Flüchtlingslager in ihre Gewalt gebracht, daraufhin bombardierte das Regime. Im Juli 2013 begann die syrische Armee mit der Belagerung Yarmouks. Neben mehreren hundert Toten durch Heckenschützen und Granatangriffen mehrten sich in den letzten Wochen auch Berichte über Hungertote. Bereits im Dezember letzten Jahres warnte deshalb UNRWA-Chef Filippo Grandi: "Wenn wir die Situation nicht unter Kontrolle bekommen, könnte es zu spät sein, um Tausende Menschen - unter ihnen auch Kinder - zu retten."
Zwischen die Fronten geraten
Seit Wochen kämpfen nun die letzten 18.000 Verbliebenen, die nicht fliehen konnten, in dem größtenteils zerstörten und von fast jeglicher Versorgung abgeschnittenen Stadtteil um das Überleben. Erst Mitte Januar erlaubte das syrische Regime der UNRWA, größere Mengen Hilfsgüter in das belagerte Yarmouk zu bringen, darunter auch Impfmittel und Medizin. Dabei wurden sie zwischendurch immer wieder auch beschossen. An guten Tagen, so wie am 30. Januar, haben sie 1000 Nahrungspakete überbringen können. An schlechten Tagen nur 26. Über 6000 Hilfspakete konnten sie bisher mit Geleitschutz der syrischen Armee den Menschen überbringen. Von einem Paket kann eine fünf- bis siebenköpfige Familie etwa zehn Tage leben.
Geschichte wiederholt sich
So wie Mohamed geht es vielen Palästinensern in Syrien. Sie hatten sich, auch auf Wunsch der palästinensischen Führung in Ramallah, lange Zeit aus dem Krieg in Syrien herausgehalten. Doch das war nicht ganz einfach: Immerhin suchten viele Syrer Zuflucht vor den Sicherheitskräften in Yarmouk, aber auch in anderen Lagern.
Spätestens seit die Rebellen in Yarmouk einzogen, wurden die Palästinenser zwischen den Fronten zerrieben: Die Assad-Gegner beschuldigen sie, hinter dem Assad-Regime zu stehen, da die syrische Regierung den Palästinensern gegenüber immer großzügig gewesen ist. "Man hat ihnen zwar keine Staatsbürgerschaft gegeben", sagt Gunness, "aber sie haben Zugang zu sämtlichen staatlichen Dienstleistungen bekommen."
Auf der anderen Seite behaupten Assads Sicherheitskräfte, dass sie zur Opposition hielten: Die Palästinenser waren in Ungnade gefallen, als die Exilführung der palästinensischen Hamas, die jahrelang ihre Geschicke aus Damaskus heraus lenkte, 2012 ihren Sitz nach Doha in Katar verlegte. Damit war klar: Die Hamas hatte den Bruch vollzogen und sich an die Seite Katars gestellt, das die syrischen Oppositionskräfte im Kampf gegen Assad unterstützt. "Flüchtlinge sind ohnehin verletzlich und angreifbar - ohne, dass man sie in einen Krieg zieht", sagt Gunness.
Daher hätten die Palästinenser auch nie Teil dieses Krieges werden wollen. Denn wie es ist, zwischen die Fronten zu geraten, hatten ihre Landsleute bereits 1991 beim ersten Golfkrieg und 2003 beim Irak-Krieg erfahren, weil der verstorbene Palästinenserführer Jassir Arafat Saddam Hussein seine Unterstützung zusagte. Sie wurden angefeindet und vertrieben.
In den Nachbarländern unerwünscht
In Syrien gehören die Palästinenser überwiegend zu den Binnenflüchtlingen, denn sie werden in den Nachbarländern nicht aufgenommen. Palästinenser aus Syrien strandeten schon oftmals mittellos an der Grenze zum Libanon.
Die libanesische Regierung folgt damit dem Vorbild Jordaniens, das nach Angaben der Organisation Human Rights Watch palästinensische Flüchtlinge abweist - Syrer hingegen aufnimmt. "Jordanien sollte anerkennen, dass alle Menschen, auch palästinensische Flüchtlinge, nicht gezwungen werden sollten, nach Syrien zurückzugehen, wenn sie dort getötet oder schwer verletzt werden könnten", sagte Bill Frelick, Direktor der Abteilung für Flüchtlinge von Human Rights Watch, in einem Statement im vergangenen Jahr.
In beiden Ländern gibt es seit 1948 Flüchtlingslager für Palästinenser. Da auch nach mehr als 65 Jahren noch kein Rückkehrrecht existiert, sind Amman und Beirut besorgt, dass die Palästinenser auch nach Beendigung des Syrien-Krieges bei ihnen im Land bleiben könnten. Syrer hingegen könnten zurück in ihre Heimat Syrien.
Mohamed ist mittlerweile wieder mit seiner Mutter vereint. Die UNRWA konnte sie ausfindig machen. Seine Zukunft ist jedoch ungewiss. Das Haus in Yarmouk ist zerstört, und in ein anderes Palästinenserlager können sie auch nicht. Denn mittlerweile sind sieben der zwölf Flüchtlingslager in Syrien zum Schauplatz des Krieges geworden. Und in Yarmouk gehen die Kämpfe seit vergangenem Freitag (07.02.2014) so heftig weiter, dass die UNRWA noch nicht einmal Nahrungsmittel liefern kann.