Papst Benedikt XVI. schwer belastet
20. Januar 2022Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist in einem neuen Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising schwer belastet worden. Benedikt habe als damaliger Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger in vier Fällen nichts gegen des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen, teilten die Gutachter in München mit.
In einer Stellungnahme bestritt Benedikt demnach seine Verantwortung "strikt", die Gutachter halten dies aber nicht für glaubwürdig.
Gutachter: Kardinal Ratzinger musste es wissen
In zwei der Fälle, bei denen die Gutachter ein Fehlverhalten des damaligen Münchner Erzbischofs sehen, sei es um Kleriker gegangen, denen mehrere begangene und auch von staatlichen Gerichten attestierte Missbrauchstaten vorzuwerfen seien. Beide Priester seien in der Seelsorge tätig geblieben, kirchenrechtlich sei nichts unternommen worden. Ein Interesse an den Missbrauchsopfern sei bei Ratzinger "nicht erkennbar" gewesen.
Die Gutachter sind mittlerweile auch überzeugt, dass Ratzinger Kenntnis von der Vorgeschichte des Priesters Peter H. hatte, der 1980 aus dem Bistum Essen nach München kam. H. war als Pädophiler verurteilt und beging später im Erzbistum München weitere Missbrauchstaten.
Rechtsanwalt Martin Pusch sagte, Ratzinger habe bei der Erstellung des Gutachtens zunächst eine "anfängliche Abwehrhaltung" gezeigt. Diese habe er aber später aufgegeben und ausführlich schriftlich Stellung genommen.
Auch Erzbischof Marx im Fokus
Auch dem amtierenden Erzbischof Reinhard Marx wird in dem Gutachten Untätigkeit vorgeworfen. Es sei ungeachtet einer Vielzahl von Meldungen nur in "verhältnismäßig geringer Zahl" festzustellen, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe, sagte Rechtsanwalt Martin Pusch. Außerdem sei Marx in zwei Verdachtsfällen ein konkretes fehlerhaftes Verhalten vorzuwerfen.
Pusch sagte, Marx habe sich auf eine "moralische Verantwortung" zurückgezogen und die direkte Verantwortung im Generalvikariat gesehen. Es sei fraglich, was, wenn nicht sexueller Missbrauch, Chefsache sei. Erst ab dem Jahr 2018 habe es bei Marx eine geänderte Haltung gegeben. Marx selbst blieb der Präsentation des Gutachtens fern.
Insgesamt mindestens 235 Täter
Die Gutachter haben bei ihrer Prüfung von Missbrauchstaten im Erzbistum München und Freising 235 mutmaßliche Täter von 1945 bis 2019 ermittelt. Davon seien 173 Priester gewesen, so Anwalt Pusch weiter. Die Zahl der Geschädigten liege bei 497. Davon seien 247 männliche Betroffene gewesen, 182 weiblich. Bei 68 Personen sei das Geschlecht nicht festzustellen gewesen. Dies bestätige, dass überwiegend männliche Kinder und Jugendliche betroffen gewesen seien.
Bei fast 60 Prozent von diesen seien die Taten im Alter zwischen 8 und 14 Jahren erfolgt. Bei den weiblichen Betroffenen gelte dies für ein Drittel der Personen. Die meisten Taten seien in den 1960er und 1970er Jahren begangen worden, konstatierte Pusch. Auffällig viele Tatvorwürfe seien von Betroffenen erst ab dem Jahr 2015 gemeldet worden. Der Anwalt betonte, bei diesen Zahlen handle es sich um das "Hellfeld", das "Dunkelfeld" sei weitaus größer.
67 Kleriker hätten laut Pusch aufgrund der "hohen Verdachtsdichte" aus Sicht der Anwälte eine kirchenrechtliche Sanktion verdient. In 43 Fällen sei jedoch eine solche unterblieben. 40 von ihnen seien weiter in der Seelsorge eingesetzt worden, darunter auch 18 Priester nach einer strafrechtlichen Verurteilung eines weltlichen Gerichts.
Opfer wurden alleingelassen
Pusch sagte, Geschädigte seien bis 2002 von den Kirchenverantwortlichen "so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen worden", falls doch, "dann nicht aufgrund des ihnen zugefügten Leids, sondern weil man sie als Bedrohung für die Institution sah".
Matthias Katsch, Leiter der Organisation "Eckiger Tisch", die Betroffene von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche vertritt, sagte der Deutschen Welle, die Ergebnisse des Berichts seien "eine Erschütterung für die ganze Kirche, nicht nur für die Kirche in Bayern und in Deutschland." Der weltweite Missbrauchsskandal habe mit dem ehemaligen Papst Benedikt die Spitze der Pyramide erreicht, sagte er weiter. Katsch fügte hinzu, Benedikt sei "bei einer Lüge ertappt worden".
Die Untersuchung im Auftrag des Erzbistums München und Freising ist von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl im Internet vollständig veröffentlicht worden. Sie umfasst mehr als 1600 Seiten.
as/sti/se (afp, dpa, dw, phoenix)