Alles ist möglich
4. Juni 2008Die jährlichen Premieren neuer Stücke im Schauspielhaus von Wuppertal sind heute weniger künstlerische Ereignisse als Hochämter oder kultische Handlungen. Alle kommen, um Pina Bausch und ihre Tänzer zu feiern. Und es ist, als wollten sich die Zuschauer auch dafür bedanken, dass die Kompanie nie abgewandert ist aus dieser Stadt, die ihr lange die kalte Schulter zeigte.
"Es stand mal zur Debatte, das ist schon viele Jahre her, dass wir nach Paris gehen", erzählt Pina Bausch. "Damals war ich total überrascht, als die Tänzer sagten, sie wollen gerne in Wuppertal bleiben. Auf einmal realisierte ich, dass sie hier gerne sind."
Dann war alles möglich
Wuppertal sei eine Alltagsstadt, sagt die Künstlerin, und das sei wichtig für ihre Arbeit. Doch den Wuppertalern war das, was sie ab 1974 in ihrem Theater sahen, zuviel des Alltags. Zunächst ein erdiger, verschwitzter Modern Dance, und dann nach und nach eine Collagenform, die das Genre Tanztheater fast im Alleingang begründete.
Ab dann war alles möglich – Tanz, aber auch Gesang, Alltagsgesten und Kinderspiele, gegen Wände rennen, sich an den Haaren ziehen und erzählen, was man früher einmal werden wollte, liegen, sitzen, oder einfach nur dastehen und eine Zigarette rauchen.
Was Menschen bewegt
"Mich interessiert nicht so sehr, wie sich Menschen bewegen, sondern was sie bewegt", sagte Bausch über ihre Arbeit. Für Tänzerinnen wie Malou Airaudo, seit den frühen Jahren dabei, war dies Grund genug, nach Wuppertal zu kommen. "Was wünsche ich mir als Tänzer von meinem Choreografen? Zuerst einen Menschen, mit allem, was einen Menschen ausmacht. Also auch mit Geduld, es noch einmal zu versuchen und immer weiter zu suchen", sagt Airaudo. "Es ist wichtig, zu suchen, warum wir tanzen. Ich habe das alles gehabt mit Pina, und das ist fantastisch."
Die Stücke waren lange heftig umstritten. Die einen verehrten Bausch als Erneuerin des Tanzes, die anderen verließen Türen schlagend die Aufführungen und schimpften über die Verschwendung von Steuergeldern. Sie machte weiter, mit sturer Beharrlichkeit, jedes Jahr ein neues Stück. Und dann hatte sie Erfolg - in Paris, in Rom, in New York.
Als ob die Seele frei liegt
Irgendwann hatten auch die skeptischen Wuppertaler begriffen, dass es bei ihnen vor der Haustür etwas ganz besonderes zu erleben gab: Tanzabende von einer Traurigkeit, die fröhlich machte, und einer Heiterkeit, die weinen ließ. Und noch lange, nachdem man das Theater verlassen hatte, wirkte ein Gefühl nach, als ob die Seele frei liegt.
Und doch sind nicht alle zufrieden mit der Entwicklung ihres Tanztheaters. Die Stücke der letzten Jahre haben ihre frühere Radikalität verloren. Sie sind bunt und heiter, aber auch ein wenig harmlos und langweilig geworden.
Wenn im neuen Stück, dass am 30. Mai Premiere hatte, eine Tänzerin ihre Tasche ausschüttelt und dabei ruft, sie sei so leer – dann fällt es schwer, dies nicht auf die Choreografin zu beziehen. Vielleicht, so die bange Befürchtung, hat Bausch ja nichts mehr zu sagen über das, was die Menschen bewegt.
Wenn heute nach einer Premiere die Zuschauer von den Sitzen springen, als sich Bausch mit ihren Tänzern verbeugt, ist das fester Bestandteil eines Rituals. Ihre Fans lieben die Choreografin – egal, was sie auf der Bühne zeigt. Und es ist, als beklatschen sie nicht nur den neuen Tanzabend, sondern alle Stücke der Pina Bausch.