Tiefe Betroffenheit über Tod von Sassoli
11. Januar 2022Viele Menschen aus ganz Europa zeigten ihre Anteilnahme am Tod des Präsidenten des EU-Parlaments in der Nacht zum Dienstag. Die Flaggen an den Gebäuden des EU-Parlaments und am Bundestag wurden als Zeichen der Trauer auf Halbmast gesetzt. David Sassoli war nach Angaben seines Sprechers am 26. Dezember "wegen einer schweren Komplikation aufgrund einer Funktionsstörung des Immunsystems" in ein Onkologie-Zentrum in Aviano im Nordosten Italiens eingeliefert worden.
Im September war er bereits wegen einer Lungenentzündung im Krankenhaus behandelt worden und konnte mehrere Wochen lang nicht seinen Aufgaben als EU-Parlamentspräsident nachgehen. Zuvor war er an Leukämie erkrankt gewesen.
Spitze der EU trauert um Sassoli
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen würdigte den Verstorbenen als "Mann mit starken Überzeugungen", dessen "Lächeln und seine Freundlichkeit" alle geliebt hätten.
EU-Ratspräsident Charles Michel bezeichnete ihn als "aufrichtigen und leidenschaftlichen Europäer". Dutzende Europaabgeordnete versammelten sich zu einer Schweigeminute vor dem EU-Parlament in Brüssel mit anschließendem Applaus. Am kommenden Montag will das EU-Parlament zur Eröffnung der Plenarwoche eine Gedenkfeier in Straßburg abhalten.
Beileidsbekundungen auch aus der Bundesregierung
Auch die Bundesregierung in Berlin zeigte sich erschüttert. "Europa verliert einen engagierten Parlamentspräsidenten, Italien einen klugen Politiker und Deutschland einen guten Freund", erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz über Twitter. Außenministerin Annalena Baerbock würdigte Sassolis Einsatz dafür, "Gräben zu überwinden und so das Parlament als Ganzes zu stärken". Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hob Sassolis Führung des EU-Parlaments "gerade in diesen schwierigen Pandemiezeiten" als "mit sicherer Hand umsichtig und konstruktiv" hervor.
Auch seine mögliche Nachfolgerin Roberta Metsola äußerte sich betroffen. Sie "habe einen Freund verloren, die Demokratie hat einen Vorkämpfer verloren", erklärte die maltesische Europaabgeordnete auf Twitter. Die erste Vizepräsidentin der EU-Volksvertretung übernahm nach Sassolis Tod geschäftsführend das Amt des Präsidenten.
Parlamentspräsident seit 2019
Der Sozialdemokrat Sassoli hatte den Parlamentsvorsitz seit der Europawahl 2019 inne. Seine Amtszeit lief diesen Monat zur Hälfte der Legislaturperiode gemäß einer Absprache der EU-Staats- und Regierungschefs aus. Sassoli hatte bereits angekündigt, dass er nicht zur Wiederwahl antreten wollte. Voraussichtlich am kommenden Dienstag werden die Abgeordneten während der Plenarsitzung in Straßburg über seine Nachfolge entscheiden. Durch den Verzicht der sozialdemokratischen S&D-Fraktion im Parlament auf einen eigenen Kandidaten gilt die Konservative Metsola als Favoritin bei der Wahl.
Anfänge als Journalist
Sassoli wurde am 30. Mai 1956 in Florenz in der Toskana geboren. Nach dem Studium der Politikwissenschaft arbeitete er als Journalist, zunächst für Zeitungen und Nachrichtenagenturen und dann für den öffentlich-rechtlichen italienischen Rundfunk. Er entwickelte sich schnell zum vertrauten Gesicht für Millionen Italiener, als er die Abendnachrichten im Sender Rai Uno präsentierte - eine Art italienischer "Mister Tagesschau". 2007 wurde er auch stellvertretender Direktor des Nachrichtenprogramms TG1.
2009 zog er für die sozialdemokratische Partito Democratico (PD) ins EU-Parlament ein. Ab 2014 war er einer der 14 Vize-Präsidenten der EU-Abgeordnetenkammer. Neben seiner Abgeordnetenarbeit betätigte sich Sassoli weiter schriftstellerisch als Autor von Büchern und lieferte Gastbeiträge für Tageszeitungen und Zeitschriften.
Sein Aufstieg zum Präsidenten des EU-Parlaments als Nachfolger seines konservativen Landsmanns Antonio Tajani kam für viele überraschend, da Italien 2019 mit dem heutigen Regierungschef in Rom, Mario Draghi, als Chef der Europäischen Zentralbank und Federica Mogherini als Außenbeauftragte der EU zwei weitere Spitzenposten besetzt hatte. Sassoli stellte klar, dass er seine Wahl auch als Zeichen der Unabhängigkeit des Parlamentes im Machtkampf mit den Regierungen der EU-Staaten sah. Sassoli galt unter anderem als Kritiker der Migrationspolitik vieler Mitgliedsstaaten.
Immer wieder setzte er sich für die Belange von Menschen auf der Flucht ein.Parlamentsdebatten führte der "Presidente", der sich oft in seiner Muttersprache Italienisch äußerte, mit harter Hand, jedoch ohne verbale Spitzen. Seine zweieinhalbjährige Amtszeit wurde durch die Corona-Pandemie geprägt. So musste er die Umstellung des Parlamentsbetriebs auf Telearbeit koordinieren. Sein Organisationstalent verschaffte ihm Respekt unter den Abgeordneten.
Als Zeichen seiner Solidarität inmitten der Krise stellte er die verwaisten Räumlichkeiten des Parlaments sowohl in Straßburg als auch in Brüssel zur Verfügung, um Mahlzeiten für bedürftige Familien zuzubereiten und ein COVID-19-Testcenter einzurichten.
kle/haz/se (afp, dpa, rtr)