Oder-Fischsterben: "Alarmsignal für Europa"
19. August 2022Für Tausende von Touristen an der Oder endete der Sommerurlaub 2022 völlig unerwartet in der zweiten Augustwoche: Der Fluss, der in Tschechien entspringt und in Polen in die Ostsee mündet, ist unter anderem für die naturnahen Auen in seinem verzweigten Unterlauf bekannt und zieht damit jedes Jahr viele Naturliebhaber an. Doch wegen des massiven Fischsterbens in der Oder hat die polnische Regierung am 12. August 2022 den Zugang zum Wasser in den Regionen Westpommern, Lebuser Land und Niederschlesien verboten.
Seit Ende Juli 2022 schwimmen auf dem deutsch-polnischen Grenzfluss riesige Mengen toter Fische. Täglich holen freiwillige Helfer Zehntausende verendeter Bleie, Rapfen, Plötzen und Welse aus dem Wasser. Bislang wurden allein auf der polnischen Seite der Oder 100 Tonnen eingesammelt. Über die Ursachen wird immer noch spekuliert. Nachdem sich die Vermutung, ein hoher Gehalt an Quecksilber stünde hinter dem Fischsterben, nicht bestätigt hatte, wird nun die Vermehrung von Algen, die bei hohen Temperaturen und niedrigem Wasserstand giftige Substanzen bilden, als möglicher Grund ins Spiel gebracht.
Polens Umweltministerin Anna Moskwa twitterte am 18.08.2022: "Die Forschungsergebnisse unserer Experten vom Institut für Binnenfischerei weisen auf das Vorhandensein von Mikroorganismen (Goldalgen) im Wasser aus der Oder hin. Ihre Blüte kann das Auftreten von Giften verursachen, die Fische und Muscheln töten. Sie sind nicht schädlich für den Menschen. Weitere Informationen folgen in Kürze." Kurz zuvor hatte auch das Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) die Algenart Prymnesium parvum "massenhaft in Gewässerproben aus der Oder" nachweisen können. Das IGB betont dabei: "Auch wenn sich dieser Verdacht erhärtet, handelt es sich um kein natürliches Phänomen, sondern definitiv um ein menschengemachtes Problem."
Weitere Katastrophen möglich
Polnische Umweltschützer sehen einen fahrlässigen Umgang mit dem Fluss als eine mögliche Katastrophenursache. "Sollte sich bestätigen, dass es zu einer Vergiftung durch von Algen produzierte Toxine gekommen ist, würde dies bedeuten, dass eine größere Menge wahrscheinlich faulenden Wassers eingeleitet wurde, in dem eine massive Algenblüte aufgetreten ist", sagt Piotr Nieznanski vom polnischen World Wide Fund For Nature (WWF) der DW. Es müsse sich um Salzwasser handeln, in dem sich die Algen normalerweise vermehrten. Viel Salzwasser fließe in die Oder aus den Bergwerken Schlesiens und der Region Glogau, so Nieznanski weiter.
"Das Fischsterben in der Oder ist ein Alarmsignal für ganz Europa, das seinen Umgang mit Flüssen überdenken muss", betont der WWF-Mitarbeiter. Die diesjährigen Dürreperioden in vielen europäischen Ländern hätten die Ökosysteme vieler Flüsse stark geschwächt. "Veränderungen der Wasserparameter, zu denen es auch kommt, weil nicht kontrolliert wird, was in diese Flüsse gelangt, können zu weiteren großen Katastrophen führen, so groß wie die, die gerade an der Oder geschieht."
Umstrittene Flussregulierung
Als eine weitere Umweltsünde sehen Naturschützer Versuche, die Oder zu regulieren. Am 17.08.2022 hat der WWF in Deutschland und in Polen den Stopp laufender Ausbauarbeiten an dem Fluss gefordert. Die Oder müsse die Möglichkeit haben, sich von den Auswirkungen der toxischen Substanzen zu erholen, erklärten die Umweltverbände aus beiden Ländern in Berlin. 2015 hatten Deutschland und Polen ein umstrittenes Wasserstraßenabkommen unterzeichnet, das trotz Protesten von Umweltschützern in Teilen umgesetzt wird.
Darauf bezog sich auch Polens stellvertretender Infrastrukturminister Marek Grobarczyk am 17.08.2022 im parlamentarischen Umweltausschuss des polnischen Parlaments. Als der Regierung vorgeworfen wurde, sie betoniere die Gewässer im Lande zu, konterte das Mitglied der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS): "Wir verwirklichen das Abkommen, das mit Deutschland unterzeichnet wurde." Grobarczyk sprach auch von Verpflichtungen im Zusammenhang mit einem europäischen Abkommen über Wasserstraßen (ANG), das Polen 2017 ratifiziert hat und demzufolge Polen die Schiffbarkeit der Oder ausbauen muss.
Kritik der Opposition
Polens Opposition wirft der Regierung Fahrlässigkeit im Umgang mit der Katastrophe vor. "Nicht nur die Fische in der Oder sterben, der ganze Staat unter Kaczynski stirbt. Die PiS ist wie Quecksilber", schrieb der Chef der Oppositionspartei Bürgerplattform (PO), Donald Tusk, auf Twitter mit Bezug auf die Regierungspartei und ihren Vorsitzenden. Damit nahm der Politiker Bezug auf die späte Reaktion Warschaus. PiS-Premierminister Mateusz Morawiecki bekannte, dass er erst "abends am 9. oder am 10. August" über die Situation an der Oder informiert worden sei - also zwei Wochen nach dem Beginn der Katastrophe. Dafür wurden die Chefs der Wasser- und der Umweltbehörde Polens entlassen.
PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski hat sich seit Beginn des Fischsterbens im deutsch-polnischen Grenzfluss überhaupt nur einmal öffentlich geäußert - und dabei ging es keineswegs um die Oder. Vor überraschten Journalisten, die ihn nach der Flusskatastrophe fragen wollten, rief Kaczynski in einem kurzen Statement zur Unterstützung eines PiS-Kandidaten bei den kommenden Lokalwahlen in der schlesischen Stadt Ruda Slaska auf.
Eine Million Zloty Belohnung
Die Vergiftung des zweitgrößten polnischen Flusses ist ein schwerer Schlag für den Tourismus - und für die Landwirtschaft. Geschäftsleute entlang der Oder wollen die Behörden mit Straßensperren dazu zwingen, das Rätsel um die toten Fische im Fluss rasch zu lösen. Die Regierung verspricht ein Sondergesetz, das Entschädigungen für Unternehmen, neue Wasserspeicher und die Modernisierung von Kläranlagen für insgesamt 3,2 Milliarden Euro garantieren soll.
Auch ein neues, automatisches System für das Wassermonitoring soll eingeführt werden. Zudem wird auch die Bevölkerung zur Suche nach den Katastrophenursachen mobilisiert: Für die Identifizierung der für die Verschmutzung der Oder verantwortlichen Personen oder für Informationen, die zur Identifizierung der Täter führen könnten, hat die Polizei eine Belohnung von einer Million Zloty, also ungefähr 210.000 Euro, ausgesetzt.