Pressestimmen: "Jetzt wird alles noch schwieriger"
27. Januar 2006Der liberale "Standard" aus Wien sieht viele Schuldige für den Wahlausgang: "Die Palästinensische Autonomiebehörde unter der korrupten wie dem Terror nachgebenden Herrschaft von Yassir Arafat zuallererst; die EU-Kommission, die Geld nach Gaza und Ramallah pumpte, ohne zuvor die Prinzipien des 'good governance' sicherzustellen; Israels Regierungen schließlich, die noch während der ersten Intifada Ende der Achtzigerjahre immer wieder die Islamisten unterstützt hatten, um Arafats PLO zu schwächen."
Das sieht die konservative polnische Zeitung "Rzeczpospolita" ähnlich: "Der Erfolg der Hamas wurde von der gesamten islamischen Welt, von Indonesien bis Marokko, mit Beifall aufgenommen. Wem ist das zuzuschreiben? Viel Schuld hat die Tolerierung der allgegenwärtigen Korruption der bisherigen Palästinenserbehörde durch die USA und die EU, die ihre Tätigkeit trotzdem finanzierten. Israel und die westlichen Länder taten nicht genug, um die Palästinenser aus dem Elend zu ziehen. Jetzt wird alles noch schwieriger."
Für die spanische Tageszeitung "El País" haben die palästinensischen Parlamentswahlen ein "Erdbeben ausgelöst, das turbulente Zeiten im Nahen Osten verspricht. Mit dem Schlaganfall Scharons hat die israelische Bühne bereits ihren Hauptdarsteller verloren. Mit dem Einfall der Hamas ins Zentrum der palästinensischen Macht ist nun ein weiterer Hauptakteur hinzugekommen, der die Situation noch schwieriger macht."
Wie es nun weitergeht, weiß die flämische Zeitung "De Morgen" aus Brüssel: "Wenn die neue Regierung steht, werden die Masken fallen, und übrigens nicht nur in Bezug auf Israel. Auch der Mikrokosmos der Palästinenser schlägt wahrscheinlich eine andere Richtung ein. Hamas will einen islamischen Staat schaffen für die Palästinenser, wo die Religion das höchste Gesetz ist und das Leben so gut wie vollständig im Zeichen des Gottesdienstes steht."
"Die USA wollen das Spiel nicht mitmachen", prophezeit die konservative Pariser Tageszeitung "Le Figaro": "Sie verweigern aus Prinzip den Umgang mit Hamas, einer Terrororganisation. Na prima. Vielleicht hätten sie lieber Bedingungen für eine Beteiligung der Islamisten an den Wahlen stellen sollen statt für ihre Machtausübung. Jetzt ist es etwas spät dafür."
Auch die Londoner "Times" macht sich Sorgen um die Zukunft: "Wie soll die Welt reagieren? Arabische Regierungen sagen jetzt, dass die Hamas sich mäßigen wird und wie jeder andere Wahlsieger behandelt werden sollte. Der Westen, der seit langer Zeit in der Region auf mehr Demokratie drängt, akzeptiert, dass ein Wahlergebnis hingenommen werden muss, auch wenn es unangenehm ist - aber nicht, wie Condoleeza Rice sagt, wenn die Hamas einen Fuß in der Politik und den anderen im Terrorismus hat."
Für die Mailänder Zeitung "Corriere della Sera" beginnt für die Europäer nun ein "verschärftes Dilemma: Die Hamas-Kräfte einfach zu ignorieren ist von nun an unmöglich, aber zu versuchen, die heutigen Hamas mit der traditionellen Diplomatie der Europäischen Union zu begegnen, also Zuckerbrot ohne Peitsche, Verhandlungen und Geldsegen, könnte in die Katastrophe führen. (...) Die Europäische Union muss der Hamas mit Entschlossenheit begegnen, bereit, auf jede Öffnung zu reagieren, aber standhaft gegenüber Hass, Gewalt und Terror."
Die Moskauer Zeitung "Kommersant" zeigt dennoch Hoffnungen: "Die Welt wird gerade Zeuge eines Experiments, eine Alternative zu der gewaltsamen Vernichtung radikaler Bewegungen zu finden, die aus dem politischen Prozess in ihren Ländern ausgeschlossen sind. Wenn die Hamas an die Macht kommt und Hamas bleibt, muss man das Scheitern dieses Wahlexperiments eingestehen. Aber was ist, wenn die Hamas sich auf ungewohnte Weise wandelt und dieses Vorbild ansteckend wirkt? Was machen die Politiker dann, deren Führerschaft allein auf dem Kampf gegen den Terrorismus beruht?"
Und etwa boshaft merkt "De Volkskrant" schließlich an: "Bei aller Sorge lässt sich ein leichtes Gefühl der Schadenfreude kaum unterdrücken. Die spektakuläre Niederlage von Fatah ist eine wohlverdiente Abstrafung der Apparatschiks und Strippenzieher, die die palästinensische Verwaltung zu einem Tümpel von Inkompetenz und Korruption gemacht haben. Das muss auch die Außenwelt sich anrechnen, die um des lieben Friedens Willen Jahre lang über die palästinensische Misswirtschaft hinweg gesehen hat. Das hat man nun davon." (gh)