Probleme durch Vielfalt: die Bevölkerung des Irak
30. Januar 2005Während sich die Bewohner der Nationalstaaten im Abendland vor allem über ihre Staatsangehörigkeit definieren, identifizieren sich etwa 23 Millionen Iraker zunächst durch andere Zuschreibungen. Ethnische Herkunft, Religion und Stammeszugehörigkeit sind immer noch entscheidende Kriterien der Abgrenzung untereinander. Das wird gerade seit dem Ende von Saddam Husseins repressiver Irakisierungspolitik deutlich, die ethnisch-religiöse Vielfalt durch ein nationales Bewusstsein ersetzen wollte.
Ethnische Gruppen
Der Irak teilt sich ethnisch in zwei große Gruppen. Ungefähr vier Fünftel der Iraker sind arabischer Abstammung, fast ein Fünftel Kurden. Minderheiten wie Armenier, Assyrer und Turkmenen machen gerade drei Prozent aus.
Religiöse Gruppen
Um die 60 Prozent der Bevölkerung sind schiitischen Glaubens, knapp ein Drittel hängt der sunnitischen Ausrichtung des Islam an. Irakische Christen bilden eine kleine religiöse Minderheit. Die Mehrzahl der Kurden sind Sunniten.
Die Ursachen der ethnischen Mischung liegen in der Staatsbildung nach dem Ersten Weltkrieg. Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs übernahm Großbritannien die Verwaltung über Mesopotamien, das fruchtbare Zweistromland zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris. 1920 verschmolz die Kolonialmacht die arabisch geprägten Provinzen Bagdad und Basra im Süden mit dem kurdischen Mossul im Norden zum heutigen Irak. Durch Landflucht und später durch Saddams forcierte Umsiedlungsmaßnahmen verließen viele Iraker ihr ursprüngliches Stammesgebiet. Vor allem Bagdad ist heute ein klassischer Schmelztiegel, indem allein eine Millionen Kurden leben.
Zwei Ströme im Islam
Die Wurzeln der religiösen Teilung hingegen liegen viel weiter zurück. Im 7. Jahrhundert nach Christus eroberten die Muslime das mesopotamische Reich. Nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 spaltete sich der Islam in zwei Richtungen.
Die Schiiten, die aus der Region des heutigen Süd-Irak stammen, betrachten einen Vetter des Propheten, Ali ibn Abi Talib, und dessen Nachkommen als weltliche und geistliche Führer (Imame) der Gesamtgemeinde. Eine Trennung von Staat und Religion lehnen viele Schiiten deshalb ab. Ihre wichtigste Bastion ist heute der Iran, wo die Schia ("Die Partei Alis") Staatsreligion ist.
Die Sunniten dagegen wollen keinen Mittler zu Gott anerkennen. Ihr Name leitet sich von Sunna her, was Herkunft, Brauch oder Sitte bedeutet. Die Sunna ist die Überlieferung des Wirkens und der Reden Mohammeds. 90 Prozent der Muslime weltweit sind sunnitischen Glaubens.
Im Irak, wo die schiitische Mehrheit zahlenmäßig überlegen ist, wurde diese nicht erst seit der Machtübernahme des arabischen Sunniten Saddam Hussein benachteiligt. Schon seit dem Ende der Kolonialzeit war es die sunnitische Minderheit, die die Geschicke des Landes lenkte. Bereits in den 1930er-Jahren gab es Aufstände der Schiiten gegen die Vorherrschaft ihrer Glaubensgegner.
Mit der Befreiung des Landes sehen vor allem die bislang benachteiligten Schiiten jetzt ihre Chance zur Machtbeteiligung gekommen. Die Sunniten bangen um den Verlust derselben. Den Kurden ist in erster Linie an größtmöglicher Autonomie ihrer Gebiete im Nordosten gelegen. Die wurde ihnen de facto bereits durch die Einrichtung der Flugverbotszone im Nord-Irak nach dem zweiten Golfkrieg von der UN eingerichtet.
Bürgerkrieg oder demokratischer Pluralismus?
Manche Beobachter fürchten, die Einzelinteressen könnten das Land in einen Bürgerkrieg stürzen. Nicht so der Irak-Kenner Tillmann Zülch von der Deutschen Gesellschaft für bedrohte Völker. "Dass sich die drei Hauptgruppen, also Schiiten, Sunniten und Kurden, jetzt die Macht teilen müssen, ist zwar etwas völlig Neues. Aber niemand denkt daran, den Irak aufzugeben. Alle sehen auch die Möglichkeiten zur Gestaltung eines neuen Staates." Der 65-Jährige hält die Wahl zum jetzigen Zeitpunkt für richtig. "Trotz aller Probleme besteht die Chance, dass sich Kurden, Sunniten, gemäßigte Schiiten und kleinere säkulare Gruppen in einer Regierung wieder finden. Wenn eine solche Konstellation kommt, können wir optimistisch sein."