Minderheitsproblem ungelöst
3. Januar 2005
Die Abhaltung freier Wahlen ist seit dem offiziellen Ende der Kampftätigkeit im Irak vor nunmehr siebzehn Monaten immer wieder zum Testfall für die von den Vereinigten Staaten angekündigte Normalisierung und den Übergang von Diktatur zu Demokratie hochstilisiert worden.
Je näher der 30. Januar aber rückt, desto deutlicher wird allen Beteiligten, dass dieser Termin bestenfalls eine Etappe auf dem Weg ist und dass die Probleme dadurch kaum weniger, vielleicht sogar noch vielfältiger werden können.
Mit Wahlen alleine ist es nicht getan
Hauptgrund für die sich verschärfende politische Lage ist nicht der Widerstands- oder Terrorkrieg, der tagtäglich im Irak seine Opfer fordert, auch nicht die Appelle zum Wahlboykott, die der gestürzte Diktator Saddam Hussein oder auch Osama Bin Laden verbreiten. Und auch die Ankündigung der größten sunnitischen Partei, man werde bei den Wahlen nicht antreten, ist nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem ist die mögliche Machtverteilung unter den rivalisierenden Gruppen.
Die alltägliche Gewalt im Irak ist nur das Symptom, das auch Washington hat erkennen lassen, dass es mit Wahlen alleine nicht getan ist. Und das in amerikanischen Kreisen bereits das Grübeln darüber ausgelöst hat, wie man freie Wahlen abhalten, aber dennoch die Rechte und Interessen der Minderheiten schützen kann.
Schiiten als potentielle Sieger
Wenn alles mit rechten Dingen zugeht bei dem Urnengang, dann werden nämlich die Schiiten als haushohe Sieger aus den Wahlen hervorgehen: Sie stellen mindestens 60 Prozent der Bevölkerung, hatten politisch aber noch nie etwas zu sagen im Irak. Die Macht hatten die Sunniten, die mit rund 20 Prozent aber nur eine Minderheit darstellten und Schiiten wie Kurden, die ebenfalls knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, bevormundeten.
Eine freie und demokratische Wahl würde diesen Miss-Stand beenden - aber gleichzeitig Sunniten, und selbst die Kurden, in eine Minderheitenrolle drängen, in der sie künftig gar keinen Einfluss mehr hätten.
Verschärfung der Rivalitäten
Solch eine Entwicklung wäre mit Sicherheit Anlass für eine Verschärfung innerer Rivalitäten und Kämpfe. Und es ist durchaus anzunehmen, dass die Anschläge auf schiitische Geistliche und politische Führer in jüngster Zeit ein Anfang dieser Entwicklung waren.
In Washington überlegt man deswegen in letzter Zeit, ob und wie man eine weitere Verschärfung der Sachlage verhindern kann. Und man kommt auf Ideen, die nicht unbedingt dem Prinzip freier und demokratischer Wahlen entsprechen. Nämlich, ob man den Sunniten nicht eine Reihe von Kabinettsposten oder auch Parlamentssitze reservieren kann - egal, wie hoch ihr Stimmenanteil bei den Wahlen sein wird.
Sonderrechte für Minderheiten
Offiziell sind diese Überlegungen bisher nicht, aber sie geben doch zu denken: Nicht nur den Schiiten, die einen Teil ihrer erwarteten Macht abtreten müssten, sondern auch den Wählern, die hier nicht gerade ein Musterbeispiel von Demokratie vorgeführt bekämen.
Im Irak gibt es überwiegend von Schiiten, von Kurden und von Sunniten bewohnte Gebiete, die allerdings nicht identisch sind mit den 18 Provinzen des Landes. Und in Bagdad ist die Bevölkerung gemischt, sodass für die Hauptstadt eine Sonderrolle zutreffen müsste. Schließlich müssten in solch einem Fall aber auch andere Minderheiten berücksichtigt werden - etwa die assyrischen oder chaldäischen Christen. Sie verfügen nicht über klar definierbare Mehrheitsgebiete, ihnen könnten aber Sonderrechte eingeräumt werden wie den Minderheiten im Iran: Dort sind Armeniern, Juden und anderen Christen feste Sitze im Parlament reserviert.
Verschärfung des politischen Chaos
Ein solches Mischpaket ist bei den Wahlen Ende Januar nicht umzusetzen, weil hierfür die gesetzliche Grundlage fehlt und die gegenwärtige Übergangsregierung kaum ein Interesse daran haben dürfte, solches anzuordnen. So werden die Wahlen wohl zunächst das politischer Chaos im Land noch verschärfen und es wird die undankbare Aufgabe der Gewählten sein, für die nächsten Wahlen im Dezember 2005 ein praktikables System zu entwerfen, das auch den Minderheiten Schutz und Rechte gibt, ohne dabei die Demokratie über Bord zu werfen.