Protest gegen Putin - die Macht der Straße?
1. Februar 2021Schlagstöcke und Elektroschocker gegen Demonstranten, mehr als 5000 Festnahmen an einem Tag: Die russische Polizei ging bei den landesweiten Massenprotesten nicht gerade zimperlich mit den Unterstützern des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny um.
Die meisten Experten interpretieren diese Härte als Überreaktion, die auf eine nervöse Stimmung im Kreml verweist. Aber wie gefährlich sind die Demonstrationen für Kremlchef Wladimir Putin wirklich? Kann die neue Protestwelle seinen Stuhl zum Wackeln bringen?
Die Massen auf den Straßen könnten allein keinen Machtwechsel in Russland auslösen, sagt der Chef der gemäßigt liberalen Stiftung Petersburger Politik, Michail Winogradow, gegenüber der DW. Ausschlaggebender sei "das Wackeln der Eliten", also der hohen Beamten rund um den Präsidenten, der hochrangigen Militärs und der Geheimdienste. Wenn es "politische Turbulenzen" in Russland gebe, dann sei die Ursache in der Regel eine Spaltung innerhalb der Machtorgane, aber: "Zur Zeit gibt es einen solchen Riss nicht." Winogradow vergleicht die aktuellen Straßenaktionen mit den Massenprotesten im Sommer 2019, damals vor der Wahl des Moskauer Stadtparlaments. Sie hätten politisch nichts geändert.
Der Kreml in der Defensive
Mehr Sprengkraft attestiert der unabhängige Politikwissenschaftler Abbas Galjamow den aktuellen Demonstrationen. Im DW-Gespräch vergleicht Galjamow die Taktik der Polizei mit der Verteidigung einer belagerten Festung mit Burggraben. Die Sicherheitskräfte hätten ausgesehen, "als hätten sie sich hinter der Mauer verkrochen, die Brücke über dem Graben hochgezogen, und auf die feindlichen Attacken gewartet". Das zeige, so Galjamow, dass der Kreml sich selbst in der Rolle des Verteidigers sehe. Die Polizisten haben auf den Politologen trotz ihres harten Vorgehens demotiviert und überrascht gewirkt. Die Kreml-Kritiker dagegen hätten hochmotiviert gehandelt: "Und weil die Machthaber in der Defensive waren, könnten die nächsten Proteste noch zahlreicher werden", resümiert Galjamow.
Und vielleicht auch heftiger. Das vermutet Ilja Graschenkow vom Zentrum für Entwicklung der regionalen Politik, einer privaten politischen Stiftung mit Sitz in Moskau. Graschenkow erkennt an, dass der aktuelle Protest "tiefer geht", dass der Kern der Protestierenden deutlich "aktiver" sei als bei den vergangenen Protesten. "Sie gehen bewusst das Risiko ein, verhaftet oder (von der Polizei, Anm. d. Red.) geschlagen zu werden. Trotzdem gingen sie auf die Straße. Mehr noch: Der überwiegende Teil sympathisiert tatsächlich mit Nawalny und fordert seine Freilassung. Dieses Mal mündete der Protest in einer politischen Forderung."
Die Eliten entscheiden
Dennoch: Putin wird so nicht aus dem Amt gejagt, das glaubt auch Abbas Galjamow. Wie Michail Winogradow schätzt auch er die Rolle der Eliten als entscheidend ein: "Natürlich werden nicht die Demonstranten eines Tages den Roten Platz stürmen und Putin aus dem Kreml werfen. Aber der Protest zeigt, dass die Menschen mit den Eliten unzufrieden sind. Das wird eines Tages auch die Loyalität der Eliten (gegenüber dem Kreml, Anm. d. Red.) beeinflussen. Dann werden auch sie rebellieren."
Selbst wenn die Proteste jetzt keine konkrete Wirkung zeigten und Nawalny nicht freigelassen werde, so politisierten die Demonstrationen das Land zunehmend und beeinflussten auch potentielle Putin-Wähler in ihrer Entscheidung.
Im kommenden Herbst wählen die Russen neue Volksvertreter in ihr Parlament, die Staatsduma. Politikexperten schließen nicht aus, dass das sogenannte "smart voting", "das schlaue Wählen" sich auszahlt, das Alexej Nawalny erfunden hat. Dessen Ziel ist es, der Regierungspartei Geeintes Russland so viele Stimmen wie möglich abzuringen. Nawalny empfiehlt den Russen, alle möglichen Parteien zu wählen, egal wie klein und zahnlos - alle außer Geeintes Russland. Für Nawalny zählt nur eins: Dass Putins Partei so wenig Rückhalt wie möglich bekommt und irgendwann abgewählt wird.