Rückkehr ungewiss: Exodus aus Shanghai
18. Mai 2022Nach genau zwei Monaten im Lockdown und insgesamt 25 PCR-Tests reicht es ihnen. "Wir sind von der surrealen Politik und der aktuellen Lage zutiefst entsetzt und werden Shanghai im Sommer vorläufig verlassen", sagt Ralph Koppitz. Der Deutsche und seine chinesische Frau leben seit 25 Jahren in China. Im Sommer ziehen sie mit ihrer jüngsten Tochter zurück nach Deutschland.
Die Familie ist kein Einzelfall: Im Zuge der Pandemie hat sich die ohnehin niedrige Anzahl von Ausländern im Land nach aktuellen Schätzungen der EU-Handelskammer in China halbiert. Zum Sommer werde ein "Exodus" erwartet. Die restriktive Null-COVID-Politik bewegt viele Ausländer dazu, China zu verlassen. Doch sie ist nicht Grund allein. Die Gesellschaft werde insgesamt intoleranter gegenüber Ausländern, die Einstellung durch die zunehmende Propaganda nationalistischer, berichten Nicht-Chinesen, die noch im Land oder bereits ausgereist sind.
Für Familie Koppitz fühlt sich seit dem 17. März jeder Tag gleich an. So lange befinden sie sich bereits in ihrem Haus am Stadtrand von Shanghai im Lockdown. Um sieben Uhr stehen sie auf, gehen eine Runde mit dem Hund durch den Wohnkomplex, den sogenannten "Compound", frühstücken, warten auf die neuesten Zahlen der Gesundheitskommission. Danach hat die Tochter Online-Schulunterricht, Ehepaar Koppitz beginnt zu arbeiten, beide sind in der Unternehmensberatung tätig. "Es fällt uns schwer motiviert zu bleiben, ohne Aussicht darauf, wann die Maßnahmen fallen", sagt Ralph Koppitz.
Lockdown als Albtraum
Die Familie weiß, dass es ihr im Vergleich zu anderen Bewohnern Shanghais gut geht. Sie hat einen kleinen Garten, lebt in einer Zone, in der sich die Menschen aufgrund niedrigerer Infektionszahlen außerhalb der Wohnung im "Compound" bewegen dürfen. Auch die Essensversorgung funktioniert. Es gibt Sammelbestellungen, die durch die Nachbarschaft organisiert werden. Aber in den sozialen Medien, die Koppitz und den meisten Ausländern im Land als verlässlichere Informationsquelle als die Staatsmedien dienen, zeichnet sich ein anderes, erschreckendes Bild ab.
So gibt es seit Wochen Berichte über schlechte Essenversorgung in der Stadt. Regierungspakete kommen demnach gar nicht, oder so spät an, dass die Nahrungsmittel bereits ungenießbar sind. Der Lockdown wird zum Teil mit drakonischen Maßnahmen durchgesetzt, Nachbarschaftskomitees stellen Zäune und Absperrungen vor Hauseingängen auf. Positiv Getestete würden in Quarantänezentren mit zum Teil schlechten Hygienebedingungen gebracht, wo sie ohne Behandlung ausharren müssten, bis sie wieder zu Hause isoliert werden. Chronisch Kranke würden teilweise nicht mehr behandelt, es mangele an medizinischer Versorgung, wird berichtet.
Am Dienstag verzeichnete die 25-Millionen-Metropole Shanghai insgesamt nur noch rund 1000 Neuinfektionen, es gab Aussicht auf Lockerungen ab Juni. Doch viele Bewohner haben den Mut verloren. Sie sind seit über zwei Monaten zu Hause eingesperrt, die Maßnahmen wurden fortwährend verlängert. Präsident Xi Jinping sagte vergangene Woche noch, seine Regierung habe nicht die Absicht, den Kurs zu ändern. Null-COVID sei "wissenschaftlich und effektiv". Er forderte alle Kader auf, "unerschütterlich an der allgemeinen dynamischen Null-COVID-Politik festzuhalten" und warnte vor jeglicher Kritik oder Anzweifelung der Regierungslinie.
Kontrollwahn
"Wir haben uns lange gefragt, ob wir uns das weiter antun wollen, doch nun ist die Entscheidung gefallen", sagt Ralph Koppitz. Der Mietvertrag für die Übergangswohnung in Deutschland ist unterschrieben, der Flug gebucht. Die Familie freut sich darauf, die zwei älteren Kinder, die in Deutschland studieren, nach zwei Jahren wiederzusehen. Die jüngste Tochter ist derzeit noch Schülerin an der Deutschen Schule Shanghai, bevor sie im Sommer an der Europaschule Potsdam anfängt. Auch einige ihrer Mitschüler werden China nach Ablauf des Schuljahrs verlassen.
Nicht nur Deutsche und Europäer fühlen sich in Shanghai nicht mehr wohl. Der kanadisch-taiwanische Fotograf Jason Wang, dessen richtiger Name anders lautet, zog 2014 nach Shanghai, um dort zu arbeiten. "2015 und 2016 war Shanghai noch eine internationale weltoffene Stadt mit einer kreativen Szene", sagt er. Mit Beginn der Pandemie sei die Gesellschaft über Nacht "ultra-nationalistisch" geworden. "Bis 2020 sah ich kaum Propaganda-Poster auf der Straße, jetzt sind sie plötzlich überall."
Jeder Aspekt des öffentlichen Lebens schien plötzlich unter der Kontrolle der chinesischen Volkspartei zu stehen. "Die Partei schreibt nun vor, wie lange Kinder täglich Videospiele spielen dürfen, ob Männer zu 'feminin' auftreten. Es gibt immer mehr Strafen für Verstöße im öffentlichen Raum, so wenn man bei Rot über die Straße geht." Das 'Social-Credit-System' habe gravierende Auswirkungen auf das Leben eines jeden. Im Januar dieses Jahres verließ Wang Shanghai. "COVID-19 wird in China politisiert und als Vorwand genutzt, um Freiheit und Meinungsfreiheit einzuschränken", sagt er. "Das wollte ich nicht mit mir machen lassen."
"Die Regierung unternimmt trotz unserer Bemühungen nichts, um Ausländer im Land zu halten", sagt Bettina Schön, Vizepräsidentin der Europäischen Handelskammer in China mit Sitz in Shanghai. Die Stadt stehe für Innovation und lebe von Diversität und internationalem Austausch. Insgesamt macht die ausländische Bevölkerung Chinas laut der Volkszählung von 2021 mit rund 840.000 Personen nur 0,06 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Viele Firmen fragten sich, ob China noch der richtige Ort für ihre Hauptvertretung in Asien ist. Laut einer neuen Studie der Handelskammer hat für drei von vier befragten Unternehmen Chinas Attraktivität als Investitionsziel abgenommen.
Nationalistische Wende
"Abhängig von den Entscheidungen der Regierung zu sein und das Haus nicht verlassen zu dürfen, ist für Europäer ungewohnt. Wir denken freiheitlich, das flößt Angst ein", sagt Schön. Die Regierung setzte außerdem immer mehr auf wirtschaftliche Entkopplung. Und dabei sei China laut Schön immer noch abhängig von importierter Hochtechnologie. Trotzdem gelte derzeit die Devise: "In China, für China". Auch die öffentliche Meinung spiegle dies wider. "Selbst Chinesen, die im Ausland studiert haben, denken plötzlich sehr nationalistisch."