"Recht muss von innen heraus gelebt werden"
15. Februar 2004DW-WORLD: Wer regt den internationalen Erfahrungsaustausch an: Das Bundesverfassungsgericht (BVG) oder die jeweiligen Staaten?
Siegfried Broß: Die Staaten. Das Bundesverfassungsgericht selbst wird nicht initiativ, weil wir uns nicht aktiv in solche Prozesse einmischen. Wir warten immer, bis wir gefragt werden.
Welche Länder haben in letzter Zeit nachgefragt?
In den letzten Jahren habe ich mit Delegationen aus ganz verschiedenen Ländern gesprochen: Zum Beispiel aus den sowjetischen Folgestaaten, der Türkei, Norwegen, Taiwan und Indonesien.
Aus welchen Ländern kommen gar keine Anfragen?
Bisher gibt es keine Kontakte mit den arabischen Ländern und Afrika.
Wie erklären Sie sich das?
Ich habe den Eindruck, dass die koloniale Vergangenheit eine erhebliche Rolle spielt. Die afrikanischen Länder sind ihren früheren Mutterländern noch stark verbunden. Bei den arabischen Staaten beeinflussen möglicherweise die traditionellen Wirtschaftsbeziehungen den Rechtsimport. Oft bereiten ja nicht die Rechtsbeziehungen den Weg für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern umgekehrt.
Für welche deutschen Erfahrungen haben sich Ihre Gesprächspartner besonders interessiert?
Großes Interesse besteht immer für die Stellung des BVG im staatlichen Gefüge. Oder wie das mit dem Antragsprinzip funktioniert – dass wir also nicht von Amts wegen tätig werden dürfen, sondern warten, bis jemandem etwas nicht passt. Viele Länder interessieren sich auch für die Zuständigkeit bei Parteienverboten oder ob ein Regierungschef seines Amtes enthoben werden darf. Länder wie Norwegen fragen nach dem Verhältnis von Bundesverfassungsgericht zu Europäischem Gerichtshof, vor allem vor dem Hintergrund der europäischen Integration.
Berichtet das BVG nur von seinen Erfahrungen oder berät es auch?
Ich achte immer peinlich darauf nicht belehrend zu wirken, sondern nur unsere Erfahrungen zu schildern. Nur in einigen Fällen rate ich dringend dazu, die deutsche Erfahrung zu prüfen und zu übernehmen. Zum Beispiel, dass eine Wahl der Verfassungsrichter auf Lebenszeit nicht zweckmäßig ist, weil sonst die Meinungsvielfalt nicht gegeben ist.
Und das BVG spricht von sich aus keine spezifischen Probleme der Länder an?
Ich halte mich aus den inneren Angelegenheiten eines Landes immer heraus. Ich beantworte also nur Fragen und spreche von mir aus keine Probleme an, außer wenn sie mit den Fragen direkt verknüpft sind. Die Thematik in diesen Fachgesprächen ist dann auch immer sehr unterschiedlich. So ging es der Delegation aus Russland seinerzeit vor allem um den Länderfinanzausgleich, den Indonesiern unter anderem um Fragen der Privatisierung, der Gleichstellung von Mann und Frau und der Religionsfreiheit.
Inwieweit orientieren sich die anderen Länder an deutschen Erfahrungen?
Ich betreibe keine Erfolgskontrolle, habe aber den Eindruck, dass die deutschen Erfahrungen ernst genommen werden. Aber ich empfehle immer, erst selbst Erfahrungen zu sammeln und mit den deutschen zu vergleichen – so sieht man, ob Korrekturen nötig sind. Recht muss ja von innen heraus gelebt werden, von den Menschen akzeptiert und verinnerlicht werden. Die Besonderheiten eines jeden Landes müssen da mit einbezogen werden.
Was nehmen Sie persönlich aus der internationalen Zusammenarbeit mit?
Die Auslandskontakte haben meine Arbeit nachhaltig bereichert. Ich bin realistischer geworden, was machbar ist, und was nicht. Denn das Bewusstsein der Menschen ist nicht immer so, wie viele – vor allem Politiker - sich das vorstellen. Man sieht das bei der europäische Entwicklung, wo ja auch eine dynamische, neue Rechtsordnung geschaffen wird. Man kann keine Rechtsordnung einfach nur überstülpen und dann ist das Problem gelöst. Es könnte sein, dass das Problem dann erst anfängt.