1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Deutschland ist vom Kleinstädtischen geprägt"

11. August 2019

17 Filme treten beim Filmfestival Locarno im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden an. Darunter: der Film des Regie-Duos Ulrich Köhler und Henner Winckler. Warum es (fast) ein Heimatfilm ist, erzählen sie im DW-Interview.

https://p.dw.com/p/3NjCB
Locarno International Film Festival - Henner Winckler und Ulrich Koehler: Regisseure des Films "Das freiwillige Jahr"
Regisseure Henner Winckler (links) und Ulrich KöhlerBild: picture-alliance/dpa/Boesl

DW: Ulrich Köhler und Henner Winckler, Sie sind beide Jahrgang 1969 und beide Filmregisseure. Das ist vermutlich nicht das Einzige, was Sie und ihre Filmarbeit seit langem verbindet?

Henner Winckler: Ja, da gibt es viele Parallelen. Wir kommen beide aus der westdeutschen Provinz...

Ulrich Köhler: (wirft ein)...wir kommen beide von der Lahn.

Henner Winckler: Genauer gesagt: aus Marburg und Gießen. Wir haben beide in Hamburg Film studiert und sind mit ähnlichen Filmen sozialisiert. Wir sind beide dann irgendwann nach Berlin gezogen.

Ulrich Köhler: Darüber hinaus haben wir wirklich viel zusammengearbeitet. Es gab eigentlich keinen Film, wo Henner mir nicht das Casting gezeigt hat oder ich ihm. Oder wo wir im Schneideraum zusammen saßen oder das Drehbuch gemeinsam gelesen haben. 

Patrick Orth, der Kameramann von unserem aktuellen Film (“Das freiwillige Jahr”/2019), hat auch mit uns studiert. Es gibt also eine lange, gut funktionierende Verbindung zwischen uns. Wir waren in der Filmklasse eine Gruppe von fünf oder sechs Studenten, die viel miteinander gearbeitet haben und immer noch in Kontakt sind. 

DW: Gibt es bei einer so langen filmischen Zusammenarbeit so etwas wie die Qualität der Vertrautheit, wo man sich auch ohne viel Worte am Filmset verständigt? Wo man nicht alles ausdiskutieren muss und weiß, wie der andere tickt? Wie haben Sie das bei Ihrer gemeinsamen Arbeit an diesem Film erlebt?

Henner Winckler: Es gibt auf alle Fälle eine große Vertrautheit. Ich habe auch schon mit dem Kameramann Patrick Orth zusammen gearbeitet. Aber ich muss sagen, die Vertrautheit zwischen Patrick und Ulrich Köhler ist noch größer, weil die beiden fast alle Filme zusammen gedreht haben.

Bei diesem Film habe ich gesehen, wie gut sie am Set miteinander funktionieren. Ich habe in meinen vorherigen Filmen immer viel mit meinen Kameraleuten über die Auflösung von Szenen gesprochen. Bei den beiden ist da kaum was nötig. Wenn Uli etwas sagt, weiß Patrick sofort, was gemeint ist. Das war schon beeindruckend.

Schweiz Locarno Internationales Film Festival 2019
Heiß begehrt: Der Goldene LeopardBild: Locarno Film Festival

Ulrich Köhler: Es war jetzt der fünfte gemeinsame Spielfilm, mit Patrick Orth als Kameramann und mir. Und davor haben wir schon Kurzfilme zusammen gemacht. Bei dem ersten Film (“Bungalow”) haben wir noch ein Storyboard gezeichnet. Jetzt ist das gar nicht mehr nötig.

Inzwischen habe ich mich aber auch als Regisseur in eine andere Richtung entwickelt. Bei unserem neuen Film konnte ich mich durch die enge Zusammenarbeit mit Henner viel mehr um die Arbeit mit den Schauspielern kümmern. Dadurch greift alles stärker ineinander, weil es auch zwischen uns großes Vertrauen gibt. Das ist etwas, was sehr hilfreich war, weil wir unter einem ganz anderen Zeitdruck standen.

Für Henners Verhältnisse war es gar nicht so ungewöhnlich: 27 Drehtage für 90 Minuten Film. Für mich war es extrem wenig Zeit, um einen Spielfilm zu drehen.

Schweiz Locarno Internationales Film Festival Das freiwillige Jahr
In "Das freiwillige Jahr" ein konfliktreiches Vater-Tochter-Gespann: Maj-Britt Klenke (links) und Sebastian RudolphBild: DW/Heike Mund

DW: Sie sind da als unabhängiger Filmemacher anderes gewöhnt. "Das freiwillige Jahr" war jetzt eine "vollfinanzierte Fernsehproduktion", wie es in der Branche heißt. Bedeutet das auch mehr Zeitdruck?

Ulrich Köhler: Nicht unbedingt. Ich versuche immer, dass das Geld in die Zeit fließt, die wir uns für den Film nehmen können. Ich glaube einfach, das es das wichtigste kreative Element ist, das man beim Filmemachen hat: die Zeit zum Entwickeln. Und im Idealfall sollte man auch eine Szene überarbeiten und neu drehen können, wenn das nötig ist. Dass man nicht nur in der Erfüllung dessen ist, was die Szenenfolge im Drehbuch von einem verlangt.

DW: Inzwischen gibt es auch im Ausland den Begriff "Das junge deutsche Kino": Es behandelt Themen, die sehr lebensnah sind. Inwieweit ist Ihr Film, der in der westdeutschen Provinz in Ostwestfalen spielt, auch sowas wie ein "Heimatfilm" - oder "Anti-Heimatfilm"? Sie leben beide in Berlin, sind Großstädter, was haben sie so spannend gefunden an dieser Dorf-Geschichte?

Henner Winckler: Na ja, das ist das, wo wir beide herkommen. Und es geht um einen Vater, der will, dass die Tochter rausgeht aus dieser Dorfidylle und die Welt kennenlernt.

Ulrich Köhler: Ich hatte in dieser Gegend von Ostwestfalen schon mal einen Film gedreht. Die im Übrigen starke Ähnlichkeit zu unserer Heimat in Hessen hat – also rein landschaftlich Heimatbezüge hat. "Anti-Heimatfilm" würde ich also überhaupt nicht sagen. Für mich ist Deutschland nach wie vor vom ländlichen Raum und vom Kleinstädtischen, geprägt, nicht von den Großstädten.

Henner Winckler: (wirft ein)...na gut, aber Heimatfilm verbindet man mit sehr vereinfachten Werten, mit einer starken Moral, insofern kann man zu unserem Film in gewissem Sinne auch "Anti-Heimatfilm" sagen.

Filmstill | "Das freiwillige Jahr" von Ulrich Köhler , Henner Winckler (Filmfestival Locarno)
Will nicht wie ihr Vater: Filmtochter in "Das freiwillige Jahr"Bild: Sutor Kolonko

Ulrich Köhler: Wir sehen uns da auf jeden Fall nicht in der Tradition des "deutschen Heimatfilms" der 1950er Jahre. (beide lachen)

DW: Wie politisch ist Ihr Film gemeint? Da schwingt ja auch viel Zeitkritik mit, zum Beispiel an der inzwischen etablierten Lebensweise der Alt-68er, in der Figur des Vaters. Wie war da Ihre Intention?

Ulrich Köhler: Ich würde sagen: Alles was Menschen tun, ist politisch. Wie lange man am Morgen duscht, ist eine politische Entscheidung mit Folgen für die Umwelt. Oder ob man mit dem Flugzeug nach Locarno zum Filmfestival fliegt oder nicht. Insofern berührt der Film auch politische Fragen, weil er eine komplexe Welt abbildet.

Unsere Hauptfigur Urs ist zum Beispiel ein liberaler Mensch, ein Arzt, der mal in Mittelamerika gearbeitet hat, und er verwickelt sich in Widersprüche zu seinem politischen Anspruch. Das spielt alles eine Rolle. Aber ich bin kein Optimist, was die Möglichkeiten betrifft, durch Kino die Welt zu verändern. Wenn ich konkret politische Probleme angehen wollte, würde ich was anderes machen als Filme.

Was zum Beispiel?

Ulrich Köhler. Na, ich würde in die Politik gehen. Ich würde einer NGO (Nichtregierungsorganisation) beitreten. Oder ich würde demonstrieren gehen. Es gibt viele Dinge, die Menschen politisch aktiv tun – im Moment sind das glücklicherweise sehr viele. Das sehr individuelle, künstlerisch ambitionierte Filmemachen als einen politischen Akt schönzureden, ist zu einfach.

Henner Winckler: Ich würde das unterstreichen. Aber ich finde schon, dass es die Aufgabe von Film ist, sich mit dem zu beschäftigen, was Tag für Tag um uns herum stattfindet – auch politisch.