"Hate Speech ist eine Zersetzungsstrategie"
27. Oktober 2020Im September 2019 sorgte ein Gerichtsurteil für Aufsehen, das in der Retrospektive wirkt, als stamme es aus grauer Vorzeit: Die Grünen-Politikerin Renate Künast, die über Facebook massiv beschimpft worden war, wollte über das Landgericht in Berlin gegen einen der Täter vorgehen, der sie im Netz mit heftigen Schimpfwörtern wie "Stück Scheiße" und "Geisteskranke" beleidigt hatte. Doch laut Beschluss des Landgerichts vom 9. September 2019 stellten entsprechende Kommentare "keine Diffamierung der Person der Antragstellerin und damit keine Beleidigungen" dar. Sie wurden damals als zulässige Meinungsäußerungen betrachtet.
In der Folge hagelte es Kritik gegen das Urteil, unter anderem von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Künast legte Beschwerde ein und errang seither Erfolge: Zwölf der 22 Beleidigungen sind vom Kammergericht Berlin mittlerweile als solche anerkannt. Und aus der Betroffenen Renate Künast ist eine der Vorkämpferinnen gegen Hassrede im Netz, sogenannte Hate Speech, geworden.
Deutsche Welle: Wie gehen Sie nach Ihren Erfahrungen der letzten Jahre aktuell persönlich mit Hassrede im Netz um?
Renate Künast: Der zentrale Weg gegen Hate Speech ist für mich der rechtliche, denn nur der hat persönliche Konsequenzen für die Täter und kann gleichzeitig dazu beitragen, dass sich Justiz und Strafverfolgungsbehörden in diesem Themenbereich weiterentwickeln. Ich verlange also zuerst eine Unterlassungserklärung und überlege dann zivil- oder strafrechtliche Schritte.
Allerdings haben gerade Rechtsextreme gelernt, haarscharf unterhalb der Grenze der Strafbarkeit zu formulieren. Solche Kommentare kann man bei sozialen Netzwerken trotzdem melden, da sie oft gegen die AGB der Plattformen verstoßen. Und ich habe es mir zur Mission gemacht, öffentlich über diese Themen, wie zum Beispiel die besondere Betroffenheit von Frauen, zu sprechen. Mein Ziel war immer, zu einer veränderten gesellschaftlichen und rechtlichen Reaktion zu kommen.
Manche argumentieren: "So was gab es schon immer. Früher hieß das Stammtisch." Wie sehen Sie das? Was ist der Unterschied in der Qualität des Hasses heute im Vergleich zum Stammtischgerede vergangener Zeiten?
Dieser Vergleich hinkt. An einem Stammtisch sitzen vielleicht eine Handvoll Menschen. Im Netz können Hasskommentare hunderttausendfach gelesen, gelikt und geteilt werden und sich so zu einem "Shitstorm" entwickeln. Das ist nicht nur für die betroffenen Personen deutlich schlimmer als ein einzelner Zuruf auf der Straße. Dieser Hass trifft auch die Leute, die mitlesen und führt dazu, dass auch die sich immer seltener im Netz äußern.
Der zweite große Unterschied ist, dass der Hass im Netz von organisierten Rechtsextremen systematisch eingesetzt wird, um ihnen unliebsame Menschen fertig zu machen und aus öffentlichen Debatten und Positionen zu verdrängen. Das ist nichts Geringeres als eine Zersetzungsstrategie, die unsere Demokratie zerstören soll! Auch haben die Posts und Tweets eine ganz andere Wirkmacht, da sie tatsächlich nie ganz verschwinden.
Findet die Zivilgesellschaft langsam Wege, mit Hate Speech umzugehen und "zurückzuschlagen"?
Gerade was das Problembewusstsein angeht, sind wir einen immensen Schritt weiter als noch vor ein paar Jahren. Das liegt vor allem an tollen Initiativen aus der Zivilgesellschaft, wie #ichbinhier, dem NoHateSpeech Movement oder HateAid. Neueste Studien deuten auch darauf hin, dass Gegenrede Hasskommentare tatsächlich reduzieren kann. Das Problem ist aber leider deutlich größer. Seit den 1990er-Jahren hat sich die sogenannte Neue Rechte zum Ziel gesetzt, mit ihren kruden Thesen in bürgerliche Milieus vorzudringen und tatsächlich haben sich unsere Diskursräume immens verschoben.
Um der Verrohung des öffentlichen Diskurses wirksam entgegenzutreten, brauchen wir neben zivilgesellschaftlichem Engagement auch verantwortungsvolle Medien, Bildung und entschiedenes politisches Handeln gegen Rechtsextremismus und Hass. Aber vergessen wir nicht: Straftaten zu ahnden, ist Aufgabe der Justiz, die hat das Thema lange verschlafen und brauchte erst öffentlich diskutierte Skandalurteile, um richtig aufzuwachen. Leider war das Gesetz der Bundesregierung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus handwerklich so schlecht, dass nun verfassungsrechtlich nachgebessert werden muss. Solange gibt es keine Meldepflicht der Diensteanbieter und folglich keine Lageanalysen des Bundeskriminalamts. Das ist sehr ärgerlich.
Welche aktuellen Maßnahmen und Initiativen finden Sie besonders wirksam oder beeindruckend?
Die Amadeu-Antonio-Stiftung leistet seit vielen Jahren hervorragende Arbeit im Kampf gegen Rechtsextremismus und Hate Speech, und auch Frauenberatungsstellen haben sich in den letzten Jahren verstärkt in diese neuen Problemfelder eingearbeitet. Vor deren Arbeit habe ich den höchsten Respekt, da diese Organisationen in sehr prekären Situationen arbeiten müssen und sich von einer Projektfinanzierung zur nächsten hangeln. Wir brauchen endlich ein Demokratiefördergesetz, was ihnen eine dauerhafte Unterstützung sicherstellen kann. Neben solchen Organisationen bin ich auch immer wieder beeindruckt, wie schnell sich gerade junge Leute über Hashtags im Netz organisieren können, wie im Fall von #IchBinKeinVirus.
Was muss Ihrer Ansicht nach geschehen, damit sich einerseits die Situation Betroffener bessert und andererseits Hate Speech im Netz wieder abnimmt?
Der Kampf gegen Hate Speech und Rechtsextremismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir brauchen zudem eine Weiterentwicklung von Rechtsprechung und Justiz und eine dringende Aufklärung rechtsextremer Tendenzen in den Sicherheitsbehörden. Betroffene brauchen dringend einen Ausbau von Beratungs- und Unterstützungsangeboten.
Als Gesellschaft müssen wir uns ernsthaft fragen, wie wir miteinander umgehen wollen. Ich finde, wir müssen zu einem Diskurs zurückkommen, bei dem wir uns mit Argumenten über Inhalte streiten und persönliche Herabwürdigungen aus Debatten verbannen. Das Netzwerk der Rechtsextremen ist enorm groß, das braucht jetzt eine ebenso große gemeinsame Gegenkampagne. Der Respekt vor der Würde jedes anderen muss eben auch als gültiges Prinzip im Alltag immer wieder neu erkämpft werden.
Das Interview führte Philipp Jedicke.