Richtungswechsel in Georgien? Fehlanzeige!
27. Oktober 2024Auch wenn die Sonne in Tiflis am Tag eins nach der Wahl scheint - über der pro-westlichen georgischen Opposition hängen düstere Wolken. Dabei feierte sie kurz nach Schließung der Wahllokale am Vortag noch ihren Sieg. Voreilig, wie sich später herausstellte.
Es ist halb sieben am Samstagabend des 26. Oktober. In anderthalb Stunden schließen die Wahllokale. Die Regierungspartei "Georgischer Traum" feiert schon jetzt ihren Sieg: auf einer Kundgebung vor der Parteizentrale in Tiflis.
Riesige Monitore auf einer Bühne zeigen die Hochrechnung des regierungsnahen soziologischen Instituts Gorbi: 56,1 Prozent. Die Parteichefs geben sich, als hätten sie ihre eigenen Pläne vergessen, eine verfassungsmäßige Mehrheit von 75 Prozent zu erreichen.
Ein Feuerwerk erleuchtet den Himmel von Tiflis, ein Auto- und Motorradkorso mit georgischen Fahnen umkreist den Platz der Freiheit im Zentrum.
Und damit sind die Feierlichkeiten der Regierungspartei auch schon vorbei. Als die Wahlkommission gegen 21:30 Uhr die ersten Ergebnisse bekannt gibt, gehen einige Journalisten nochmals zur Parteizentrale des "Georgischen Traums". Dort wartet aber nur eine leere Bühne auf sie.
Nicht ohne Grund: so toll wie die Hochrechnung ist das Ergebnis nun doch nicht. Nach offiziellen Zahlen der Wahlkommission kommt der "Georgische Traum" auf 54 Prozent der Stimmen.
Keine Chance für prowestliche Parteien
Insgesamt standen 18 Parteien auf den Wahlzetteln, unter ihnen die ehemalige Regierungspartei "Vereinigte Nationale Bewegung" (UNM) von Ex-Präsident Michail Saakaschwili.Ex-Präsident Michail Saakaschwili.
Sie und drei weitere Parteien stehen für mehr Demokratie und europäische Integration Georgiens und erzielten knapp 37,6 Prozent. Die Regierung hatte schon angedroht, sie verbieten zu wollen - dafür fehlt ihr aber jetzt die erforderliche Mehrheit von 113 Sitzen.
Die UNM-Vorsitzende Tinatin Bokutschawa erklärte bereits kurz nach Mitternacht, das Wahlergebnis nicht anerkennen zu wollen. Zur Begründung hieß es, die Wahlkommission führe "schmutzige Befehle" der Regierungspartei aus und habe "dem georgischen Volk den Sieg gestohlen".
Andere Oppositionsparteien schlossen sich dieser Einschätzung an. Sie weigern sich, im neuen Parlament zu arbeiten und kündigen Proteste an.
Klare Unterschiede zwischen Stadt und Land
Aus der Pressekonferenz der Wahlkommission geht hervor, dass die Menschen auf dem Land mehrheitlich die Regierungspartei unterstützt haben, während die Einwohner der Hauptstadt eher für die Opposition stimmten.
Die Wahlbeteiligung war die höchste seit 2012, dem letzten Machtwechsel. Diesmal gingen rund 59 Prozent der 3,7 Millionen Wahlberechtigten zu den Urnen.
Vor vier von fünf Wahllokalen im Zentrum von Tiflis, die die DW besuchte, standen um die Mittagszeit Schlangen von 10-15 Personen. Beim Einlass wurden die Personalausweise kontrolliert und vor der Aushändigung des Stimmzettels den Wählern ein leuchtendes Spray auf die Finger gesprüht. Damit sollten mehrere Urnengänge hintereinander verhindert werden.
Der größte Fälschungsversuch wurde in einem Wahllokal in der Stadt Marneuli bei Tiflis festgestellt. Dort wurde in einem Wahllokal versucht, einen ganzen Stapel von Wahlzetteln in eine Wahlurne hereinzustecken.
Der Vorfall wurde gefilmt und das in den sozialen Medien geteilt Video sorgte für Aufregung. Die Opposition behauptet, ihre Vertreter und Beobachter seien von regierungsnahen Aktivisten mit Schlagstöcken geschlagen worden. Letztendlich verlief aber der Samstagabend und auch der ganze Sonntag überraschend ruhig.
Ermüdete Opposition?
Obwohl es viele enttäuschte Wähler in der Hauptstadt gibt, werde die Opposition es jetzt schwer haben, diese für Massenproteste zu mobilisieren, glaubt Politikwissenschaftlerin Renata Skardziute-Kereselidze von der Denkfabrik Georgian Institute of Politics in Tiflis. Anders als bei den Massenprotesten im Frühjahr, als ein umstrittenes Gesetz verhindert werden sollte.
Für viele Georgierinnen und Georgier sei es wichtig gewesen, weiterhin in Frieden zu leben. Darum hätten viele die Regierungspartei gewählt, so Skardziute-Kereselidze.
Der Krieg in der Ukraine dürfte die wesentliche Rolle gespielt haben. Menschen, die die DW auf den Straßen von Tiflis gefragt hat, bestätigen das.
"Mit dem Sieg der Regierungspartei bleibt alles gut. Das Wichtigste ist der Frieden in unserem Land", sagte ein Mann. "Ich bin zufrieden mit der Regierung und den Wahlen", bestätigt eine Rentnerin.
Die Regierungspartei "Georgischer Traum" warb im Wahlkampf mit der Verbundenheit zu Russland, versprach Frieden und Stabilität und schürte Ängste vor einem Krieg mit Russland, sollte die Opposition gewinnen
"Die Wahl war ein ziemlich kontrollierter Prozess, bei dem viele substanzielle Rechtsverletzungen festgestellt wurden", so Politikforscherin Skardziute-Kereselidze analysiert im DW-Interview.
Sie glaubt nicht, dass die regierende Partei die nächsten vier Jahre demokratischer werde. Im Gegenteil, sie werde mehr Druck auf unabhängige, kritisch denkende Menschen ausüben. Keine sonnigen Aussichten für Georgiens liberale Opposition.
Mitarbeit von Maria Katamadze