Rio blickt in den Abgrund
18. November 2016Hatten die Polizisten doch recht? "Welcome to hell" - Willkommen in der Hölle: Mit diesen Furcht einflößenden Worten begrüßten sie Ende Juni Touristen am Flughafen von Rio de Janeiro. Ihre Botschaft: "Wir werden nicht für eure Sicherheit sorgen, denn wir bekommen schon seit Monaten kein Gehalt mehr."
Die Besucher der Olympischen Spiele ließen sich bekanntermaßen nicht von diesem Szenario abschrecken. Doch drei Monate nach dem Ende des größten Sportfestes weltweit kämpfen nun die Einwohner der Metropole selbst um ihr Überleben in der "Hölle" von Rio de Janeiro.
Der Grund: Das Bundesland steht vor dem Finanzkollaps. Gehälter der Angestellten im öffentlichen Dienst werden zu spät, in Raten oder gar nicht mehr ausgezahlt. In Krankenhäusern fehlen Medikamente und Einwegspritzen, auf den Polizeiwachen gibt es weder Druckerpatronen noch Toilettenpapier und auch kein Geld, um Streifenwagen aufzutanken. An den Schulen stehen Telefone und Computer still, denn Strom- und Internetrechnungen werden schon seit langem nicht mehr beglichen.
Die Kassen sind leer
Vor dem Landtag in Rio liefern sich öffentliche Angestellte erbitterte Schlachten mit Polizisten - eine der wenigen Berufsgruppen, die zurzeit noch Gehälter ausgezahlt bekommt. Feuerwehrleute, Lehrer, Gefängniswärter, Krankenschwestern und Gesundheitspersonal demonstrieren gegen das rigorose Sparprogramm zur Sanierung des öffentlichen Haushaltes, das die Abgeordneten verabschieden wollen.
"Die Zukunftsaussichten sind erschreckend", erklärt Mauro Osório, Wirtschaftsprofessor an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (UFRJ) gegenüber der Tageszeitung "El País". "Wenn der Bundesstaat Rio de Janeiro das 13. Monatsgehalt nicht mehr auszahlen kann, dann wird die Justiz die Konten des Haushaltes sperren. Es wird dann so lange kein Geld mehr geben, um das Essen der Gefangenen zu bezahlen oder Krankenhäuser mit Medikamenten auszustatten, bis die Gehälter ausgezahlt worden sind."
Rios olympischer Höhenflug ist endgültig vorbei. Die einst sprudelnden Erdöleinnahmen des Bundesstaates sind versiegt, die Investitionen bleiben nach dem Ende der zahlreichen Großveranstaltungen aus, und die Arbeitslosigkeit ist von 3,5 Prozent (2014) auf aktuell 6,7 Prozent gestiegen (der nationale Durchschnitt liegt bei 11,8 Prozent).
Politiker brauchen "Sauerstoff"
Inmitten der angespannten politischen Lage machte plötzlich die brasilianische Justiz unmissverständlich klar, dass sie weiterhin funktioniert. Innerhalb von nur 24 Stunden ließ sie am Donnerstag zwei ehemalige Gouverneure Rios festnehmen: Sergio Cabral, der den Bundesstaat von 2007 bis 2014 regierte, und seinen Vorgänger Anthony Garotinho.
Die Festnahmen schlugen wie eine Bombe ein, denn die beiden Politiker, denen die Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen wird, stehen symbolisch für Korruption und Klientelismus. "Sauerstoff" nannte Ex-Gouverneur Cabral die Bestechungsgelder von Bauunternehmen für lukrative öffentliche Aufträge oder Steuererleichterungen.
Die großzügige Sauerstoffzufuhr, die dem ehemaligen Gouverneur ein Leben in der Luxusklasse ermöglichte, nahm mitunter skurrile Formen an. Ein Beispiel für die Korruptionsvorwürfe: Seine Frau soll mit einem Ring von einem Pariser Juwelier im Wert von umgerechnet 300.000 Euro "beschenkt" worden sein, und er selbst habe sich jeden Monat über ein "Taschengeld" von 100.000 Euro gefreut.
Sparen bei den Ärmsten
"Die Verhaftungen sind ein Indiz für die Finanzkrise des Bundesstaates", sagt Ricardo Ismael, Professor an der Katholischen Universität PUC in Rio de Janeiro. "Sie ereignen sich in einem politisch angespannten Umfeld, denn während jetzt im Landtag rigorose Sparprogramme diskutiert werden, flossen auf der anderen Seite enorme Geldsummen in Korruptionskanäle."
Nun ist der "Sauerstoff" knapp geworden, und zwar nicht nur für die Ex-Gouverneure Cabral und Garotinho, sondern für alle Einwohner von Rio. Die von den Landtagsabgeordneten avisierte Liste der Grausamkeiten sieht harte Einschnitte vor. So sollen Steuern für Strom, Tabak, Bier, Treibstoff und Telefon erhöht, und Sozialprogramme wie Speisetafeln für Bedürftige und Hilfen für Obdachlose gestrichen werden.
"Rios Finanzkrise war absehbar, sie wurde lange durch Kredite und vorgezogene Auszahlungen von Etats verschleiert", schreibt die Kolumnistin Raquel Landim von der brasilianischen Tageszeitung "Folha e São Paulo". Sie warnt vor einer Ausweitung der Krise: "Wenn die Rezession anhält, dann verschärft sich die Finanzkrise und breitet sich mit unvorhersehbaren Folgen im ganzen Land aus."
Doch in der "Hölle" von Rio gibt es auch himmlische Momente: Als Ex-Gouverneur Sergio Cabral am Donnerstag im Hochsicherheitsgefängnis von Bangu in Rio eintraf, wurde er freudig mit Feuerwerk und Sprechchören empfangen. Die Gefängniswärter, die nun um ihr Gehalt bangen müssen, begrüßten ihn mit dem Spruch: "Gerechtigkeit muss sein."