Sniper sollen Rios Kriminelle jagen
13. November 2018"Das Richtige ist, einen Banditen zu töten, der ein Gewehr trägt. Und die Polizei wird das Richtige tun: Man wird sein Köpfchen ins Fadenkreuz nehmen und Feuer!" Mit drakonischen Worten kündigte der Bundesrichter Wilson Witzel in der Zeitung "Estado de S. Paulo" seine neue Strategie im Kampf gegen die Drogenbanden von Rio de Janeiro an.
Bei einem Live-Auftritt beim Nachrichtensender GloboNews kommentierte er zudem Bilder von bewaffneten Jugendlichen, die von einem Hubschrauber aus gefilmt wurden. Kämen die Bilder aus einem Polizeihubschrauber, könnte er jetzt sofort den Abschussbefehl geben, sagte Witzel zu den verblüfften Globo-Moderatoren.
Auf der rechtskonservativen Welle
Bis vor wenigen Wochen kannte kaum jemand Richter Witzel. Noch im August lag er in Umfragen bei einem Prozent. Ende Oktober wurde er überraschend mit 60 Prozent zu Rio de Janeiros neuem Gouverneur gewählt. Er surft auf der rechtskonservativen Welle, die auch den Hardliner und Ex-Militär Jair Bolsonaro ins Präsidentenamt trug.
Am 1. Januar tritt Witzel sein Amt an. Priorität Nummer eins sei der Kampf gegen die ausufernde Gewalt. Die 2008 initiierte Befriedung der Favelas durch dort stationierte Polizeikräfte war zuletzt wie ein Kartenhaus zusammengestürzt. Mit aller Wucht - und schweren Waffen - drängen die Drogenbanden zurück in die Armutsviertel.
Zu Snipern ausbilden
Er habe deshalb sowohl bei der militärisch organisierten Landespolizei Polícia Militar als auch bei der für die Aufklärung von Straftaten zuständige Polícia Civil angefragt, wie viele ausgebildete Sniper in ihren Einheiten zur Verfügung stünden, sagte Witzel. Er will diese in intensiven Trainingseinheiten fit für den Abschuss machen.
Die Kritik an den Plänen ist groß. Denn immer wieder töten Polizisten bei Einsätzen Zivilisten "aus Versehen". Ein Familienvater musste sterben, weil die Polizisten seinen Regenschirm mit einem Gewehr verwechselten. Auch ein Handwerker mit einer Bohrmaschine wurde Opfer einer solchen "Verwechslung". Selbst Schulkinder sind nicht sicher, wenn Wohnviertel von Hubschraubern aus beschossen werden. Witzel erwidert, dass es sich nicht um ausgebildete Scharfschützen gehandelt habe.
Beifall von Bolsonaro
Bald will er nach Israel reisen, um dort mit Maschinengewehren bestückte Tikad-Drohnen des US-amerikanischen Start-ups Duke Robotics zu erwerben. Senator Flávio Bolsonaro, Sohn des neuen Präsidenten Jair Bolsonaro, will Witzel begleiten.
Denn auch dem neuen Präsidenten gefällt die Idee, Banditen aus der Ferne abzuschießen. Beim UN-Blauhelmeinsatz in Haiti seien brasilianische Soldaten bereits so verfahren, so Bolsonaro. "Wenn sie irgendjemanden aufgespürt haben, der eine Waffe trug, wurde der abgeschossen."
Nur legitime Selbstverteidigung
In Brasilien seien aber brasilianische Gesetze gültig, erwidert Coronel Robson Rodrigues da Silva, bis Anfang 2016 Subcomandante der Polícia Militar von Rio de Janeiro, der DW. "Um so etwas durchzuführen, muss Witzel erst den Rechtsstaat aushebeln. Das ist ein juristischer Aberwitz, denn schließlich gibt es keinen legitimen Angriff, nur eine legitime Selbstverteidigung."
Es herrsche zudem ein falsches Bild über Scharfschützen vor, glaubt Rodrigues. "Zum einen gibt es diese Sniper, wie wir sie als Helden im Kino sehen, nicht." Zum anderen müsse man den psychologischen Zustand der Scharfschützen infrage stellen, die sich zu solchen Einsätzen melden. "Der hat entweder keine Beziehung mehr zu den Gesetzen, ist ein Sadist oder hat Probleme im Kopf, die es ihm unmöglich machen, die gültigen Gesetze zu verstehen. Oder aber er ist massiv verhaltensgestört."
Keine konkreten Pläne parat
Rodrigues, der über Jahre die Befriedungseinheiten der Polícia Pacificadora in Rios Favelas leitete, fordert stattdessen mehr Investitionen in Schulen und Sozialprojekte, um den Jugendlichen Perspektiven zu eröffnen. Er weiß, dass er damit gegen den Zeitgeist steht. "Es ist eine ernste Sache, Sniper loszuschicken, um den Applaus der Bevölkerung zu bekommen. Denn auch diese Bevölkerung ist ja emotional und psychologisch krank, sie ist von Angst gelähmt und sehnt sich in ihrem Hass nach einem reinigenden Gewitter." Diese Gefühlslage auszunutzen sei eine riesige Verantwortungslosigkeit. "Zumal das Risiko besteht, damit die gesamte Bevölkerung einer noch größeren Gefahr auszusetzen", so Rodrigues. Er sagt Racheaktionen der Drogenbanden gegen alle Polizisten voraus. Schon jetzt werden mehr Polizisten außerhalb des Dienstes getötet als im Dienst.
Witzels Pläne sollen Stärke demonstrieren, konkrete Pläne zur Verbrechensbekämpfung habe er jedoch nicht, glaubt die Anthropologin Jacqueline Muniz von der Bundesuniversität UFF (Universidade Federal Fluminense). Die Investitionen in Kriegsmaterial sollten "die Drehbücher von Filmen reproduzieren, in denen Sniper die Bevölkerung retten. Das wird so jedoch nicht geschehen", sagte Muniz dem Portal ponte.org.
Bolsonaro fordert Gesetzesänderung
Rios Zivilgesellschaft habe mit Entsetzen auf Witzels Pläne reagiert, sagt Annette von Schönfeld, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio. "Die Zivilgesellschaft kann nicht einen Freibrief akzeptieren, der Menschen zum Abschuss freigibt, egal ob sie kriminell sind oder nicht." Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte die Pläne, die nur noch mehr Gewalt verursachen würden und zudem gegen geltende Gesetze verstießen.
Richter Witzel ist sich der unsicheren Rechtslage bewusst. "Aber ich verteidige lieber Polizisten vor Gericht, als zu ihren Beerdigungen zu gehen. Wir werden die Polizisten vor Gericht verteidigen, und sollten sie verurteilt werden, werden wir Berufung einlegen." Für die Abschüsse verurteilt zu werden, sei halt ein Risiko, so Witzel. "Aber es beunruhigt mich noch mehr, Banditen mit Gewehren auf den Straßen zu sehen."
Der gewählte Präsident Bolsonaro fordert derweil eine Gesetzesänderung, die der Polizei freie Hand gibt. Eine entsprechende Gesetzesinitiative wurde bereits von Senator José Medeiros von der Podemos-Partei eingebracht. Darin wird der Begriff der legitimen Selbstverteidigung erweitert. Diese umfasse auch Situationen, "in denen ein Vertreter des öffentlichen Sicherheitsapparates jemanden verletzt oder tötet, der eine Waffe trägt, deren Einsatz gesetzlich beschränkt ist".