"Sebastian Kurz ist der Zombie einer alten Zeit"
14. Juni 2018Deutsche Welle: Glauben Sie das, was Angela Merkel sagt, dass das jetzt ein Lackmus-Test sei: die Migrationsfrage für die EU?
Robert Menasse: Was wenig Menschen wissen: Es ist seit mehr als 20 Jahren ein Test für das Gemeinschaftsgefühl der Union. Seit über 20 Jahren gibt es Vorschlagpapiere, Entwürfe, für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik von Seiten der Europäischen Kommission, die immer vom Europäischen Rat zurückgewiesen wurden. Jeder Mitgliedstaat hat immer wieder gesagt: wir wollen gar nicht in eine Situation kommen, wo uns wer in Brüssel sagen kann, wir haben Flüchtlinge aufzunehmen oder wir haben eine bestimmte Anzahl von Migranten zu versorgen. Das ist immer zurückgewiesen worden. Die Kommission wusste seit 20 Jahren, hat immer Statistiken gehabt, wo sind die Krisenherde, wie wird sich das entwickeln, wer wird sich da in Bewegung setzen. Man hat auch schon kalkuliert mit ökologischen Flüchtlingen, Dürreperioden, wieviele Menschen sich in Bewegung setzen und so weiter, haben das hochgerechnet und gesagt: "Wir brauchen dringend eine europäische Asyl- und Migrationspolitik." Und die Mitgliedstaaten haben das 20 Jahre lang zurück gewiesen. Und jetzt, wo die Flüchtlinge wirklich da sind, sind die Mitgliedstaaten hilflos. Das ist in Wirklichkeit das Symptom für die eigentliche politische Zerrissenheit für die Europäische Union, die zerrissen ist, durch die Egoismen der Nationalstaaten.
Wen empfinden Sie denn in der Flüchtlingsfrage als besonders egoistisch?
Das Dublin-Konzept ist ein Verbrechen. Man kann nicht eine Regel machen, dass die, die als erstes mit den Flüchtlingen konfrontiert sind - also das Land, wo die Flüchtlinge ankommen - verantwortlich sind. Dann ist klar, dass die Länder an der Peripherie überfordert sein müssen. Während sich die Binnenstaaten (Einwurf DW: Österreich, Deutschland) zurücklehnen können. Und das ist so seltsam, dass diese sogenannten Binnenstaaten auf einen Rechtszustand verweisen,während sie selbst in anderen Fragen jederzeit bereit sind, Recht zu brechen, wie die österreichische Regierung.
Spaltet der österreichische Kanzler Sebastian Kurz Europa oder macht er zu Recht Druck?
Er macht Druck, aber das ist nicht seine Absicht. Was er will, ist einfach: Europapolitik zu missbrauchen, um innenpolitische Signale zu senden. Es geht ihm nur um Innenpolitik. Dem ist Europa völlig egal. Er versteht das auch nicht. Diesen Vorschlag, innerhalb eines Jahres in Europa eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik zu machen, wie wir gerade gehört haben, das hätten wir seit 20 Jahren haben können, wenn die Mitgliedstaaten das begriffen hätten...
Da war Kurz natürlich erst 11 Jahre alt…
Nein, nein es geht mir nicht um Kurz, sondern um die grundsätzlichen Strukturen, dass die letzte Entscheidung bei den Staats- und Regierungschefs lag, und man kann keine Europa-Politik machen, keine gemeinsame, keine nachnationale Politik, wenn die nationalen Staatschefs letztlich entscheiden: Die wissen, dass sie nur national wiedergewählt werden, die müssen immer innenpolitische Signale senden. Der Kurz hat das perfektioniert. Und ich sage Ihnen: Er ist ein völlig neuer Politiker-Typus in dieser Frage. Bisher hatten wir Pro-Europäer und Euroskeptiker oder Eurokritiker. Das waren die beiden Gruppen, die gegeneinander gespielt haben auf diesem europa-politischen Spielfeld. Mit Kurz ist jemand auf die politische Bühne gesprungen, der etwas Neues bringt: diesen europapolitischen Chamäleon-Typus. Er sagt: Ich bin ein Pro-Europäer und macht regelmäßig anti-europäische Politik.
Er hat das Ressort ja auch zu sich gezogen und hat das nicht der FPÖ überlassen.
Und gleichzeitig beruhigt er daheim die Nationalisten und sagt: "Ich stimme eh nirgends zu, ich werd eh mein Veto einlegen, ich werd alles blockieren, und ich werde dann zuhause erklären: Ihr seht, Europa funktioniert nicht, auch wenn ich ein Veto einlege, und deshalb brauchen wir eine nationale Lösung." Und das ist das Mieseste, was es europapolitisch heute überhaupt gibt. Und er ist ein keiner wirklichen Lösung interessiert.
Menasse setzt seine Hoffnung in die junge Generation, die "Erasmus-Generation", die an die Schalthebel kommt?
Sebastian Kurz, der österreichische Kanzler, scheint nur dieser Generation anzugehören, ist aber der Zombie einer alten Zeit. Und der wird auch nicht verhindern können, dass diese Generation sagt: Was wir uns errungen haben in Europa, lassen wir uns nicht mehr nehmen; und die Konstruktionsfehler werden wir ausräumen. Ich glaube, das Wichtige in der europapolitischen Diskussion heute ist: Wir müssen die Idee rekonstruieren und verteidigen. Die Idee war grundsätzlich, Frieden auf diesem Kontinent zu schaffen, indem man den Nationalismus überwindet - das war der Aggressor, der hat zu diesen Kriegen und so weiter geführt. Man muss den Nationalismus überwinden, die nationalen Egoismen, den Konkurrenzkampf der Nationen und zwar durch die Verflechtung ihrer Ökonomien, und durch die Herstellung eines gemeinsamen Rechtszustands. Jetzt haben wir: gemeinsamen Markt, gemeinsame Währung, gemeinsame Bürokratie. Was fehlt, ist die gemeinsame Demokratie. Das heißt, wir müssen die Idee verteidigen, den Status Quo kritisieren, die Defizite - wir haben noch keine gemeinsame Demokratie - und eine Vision entwickeln, wo wollen wir hin. Und die heutigen politischen Eliten haben die Idee vergessen, managen den Status Quo gerade soweit, dass er nicht zusammenbricht und können keine Vision anbieten, worauf es hinauslaufen soll. Und da ist der Spielraum, den wir Europäer haben, indem wir das einfordern, und indem wir darum kämpfen. Es geht ja um unser Leben und das unserer Kinder und Kindeskinder. Und daran liegt mir natürlich, weil ich auch eine Tochter habe und merke, dass die eine Europäerin ist.
Wir brauchen also Geduld und Zeit. Die haben wir aber nicht, Herr Menasse.
Doch. Denn das europäische Projekt hat seit über 60 Jahren in kleinen Schritten überraschend weit getragen. Vor 25 Jahren hat sich niemand eine gemeinsame Währung vorstellen können. 1948 hat sich niemand einen gemeinsamen Markt vorstellen können, Niederlassungsfreiheit vorstellen können. Als ich studiert habe, wollte ich ein Gastjahr in Berlin studieren an der Freien Universität. Ein Wiener, der wollte in einer anderen deutschsprachigen Stadt studieren - ich konnte nicht. Als ich das meiner Tochter erzählt habe, die konnte mir das nicht glauben. Es ist vieles passiert. Und ich sage Ihnen noch etwas. Sehr vieles von dem, was wir heute so unglaublich dramatisieren, wird auch aufgrund der Dynamiken der Mediengesellschaften sehr bald in den Hintergrund rücken und es wird andere Aufregungen geben und inzwischen werden vorläufige Lösungen gebastelt. Ich könnte nie Politiker werden, weil Politik ein Handwerk ist, das bestimmte Kompetenzen und Fähigkeiten voraussetzt, die ich nicht habe.
Aber Sie können reden, Sie können erklären, Sie können argumentieren.
Ich tue mich schwer mit einem Alltag der mühsamen Kompromissfindung. Ich schreibe lieber, und analysiere, womit ich mich beschäftige: ich lese viel, ich schau mir viel an, ich recherchiere - aber dann will ich das kompromisslos schreiben können. Das glaube ich zu können. Deshalb könnte ich nicht Politiker werden. Im Alltagsgeschäft eines Politikers, das erfordert ganz andere Qualitäten.
Robert Menasse (63) ist ein östereichischer Schriftsteller. Für seinen Roman "Die Hauptstadt" über die Europäische Union erhielt er den Deutschen Buchpreis.
Das Interview führte Tina Gerhäusser.