Rohingya ohne Hoffnung
22. Dezember 2016Mirvana Begum erinnert sich noch genau an den Abend des 9. November. Es war der Abend, an dem ihr Leben zur Hölle wurde. "Sie kamen mit Lastwagen in unser Dorf. 200 oder 250 Mann", erzählt die junge Frau, die ihr Gesicht vor Scham hinter einem gelben Schleier verbirgt. "Nachdem sie das Dorf geplündert hatten, fingen sie an, die Frauen zu vergewaltigen."
Sie, damit meint Mirvana Begum myanmarische Sicherheitskräfte. Seit gut zwei Monaten durchkämmt das myanmarische Militär systematisch alle Dörfer, in denen es Mitglieder der extremistischen Gruppierung Harakat Al-Yakin (Glaubensbewegung) vermutet. Die machen sie verantwortlich für einen Angriff auf myanmarische Grenzposten im westlichen Rakhine-Staat Myanmars an der Grenze zu Bangladesch. Mehrere hundert Angreifer töteten dabei neun Polizisten und erbeuteten Waffen sowie Munition. Die Berichte von der seitdem laufenden Militäroperation, die durch Flüchtlinge wie Mirvana Begum aus dem streng abgeriegelten Gebiet dringen, erzählen von unvorstellbarer Grausamkeit.
"In Gruppen zwangen sie die Frauen aus unserem Dorf in ein Haus, um sie dort zu vergewaltigen", berichtet sie. "Zwei Soldaten bewachten solange die Tür. Von drinnen hörte ich die Schreie der Frauen." Mirvana Begum ist 22 Jahre alt. Zusammen mit ihren drei Söhnen hat sie es über die Grenze nach Bangladesch geschafft. Der jüngste ist gerade einmal acht Monate. Vom Vater fehlt seit jenem verhängnisvollen 9. November jede Spur. "Er arbeitete auf dem Reisfeld, als die Soldaten kamen", erzählt Mirvana Begum. "Von anderen habe ich gehört, die Armee habe ihn aufgegriffen und getötet."
Leben in Flüchtlingslagern
Mirvana Begum hockt in einer dunklen Hütte auf dem Fußboden aus gestampfter Erde im Flüchtlingslager Kutupalong. Sie und ihre Kinder gehören zu den geschätzt rund 27.000 Rohingya, die seit Beginn der Militäroperation im Rakhine-Staat über die nahe Grenze nach Bangladesch geflohen sind. So wie viele andere, sind auch sie in dem provisorischen Flüchtlingslager untergekommen. Etliche haben hier Verwandte, von denen manche schon vor Jahren vor der immer wiederkehrenden Gewalt und der Unterdrückung in ihrer Heimat geflohen sind.
Was von den Geschichten, die Neuankömmlinge wie Mirvana Begum erzählen, tatsächlich wahr ist, lässt sich nicht überprüfen. Wochenlang riegelte das myanmarische Militär die Region, aus der die Flüchtlinge kommen, hermetisch ab: keine unabhängigen Beobachter, keine Journalisten, noch nicht einmal Hilfslieferungen wurden durchgelassen.
Und so sind Mirvana Begum und die vielen anderen Flüchtlinge hier die einzigen, die von den angeblichen oder tatsächlichen Gräueltaten berichten. Als Beweise bringen sie ihre Verletzungen mit, die körperlichen und die seelischen. Ein Arztbrief aus der kleinen Versorgungsstation, die die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hier eingerichtet hat, bescheinigt Mirvana Begum ein gewaltbedingtes Trauma. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International bestätigen humanitäre Helfer, Flüchtlinge mit Schusswunden und den Folgen von Vergewaltigungen behandelt zu haben. Aufgrund dieser Anhaltspunkte und der Augenzeugenberichte zusammen mit Satellitenbildern, auf denen zerstörte Dörfer zu erkennen sind, kommt Amnesty International zu dem Schluss, dass es sich bei den Vorgängen in Rakhine wahrscheinlich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt.
Aussichtlose Lage
In Bangladesch stehen viele der Flüchtlinge vor dem Nichts. Die Situation in den Lagern war vor ihrer Ankunft schon erbärmlich, jetzt wird sie noch schlimmer. Die engen Wege sind gesäumt von windschiefen Bambushütten. Schwarze Plastikplanen dienen als Dächer. Oft leben ein Dutzend Menschen auf ein paar Quadratmetern. Die Kinder trifft es am härtesten, und Kinder gibt es viele. Nicht selten sind ihre Bäuche aufgebläht wie Ballons.
Lebensmittelhilfen gibt es so gut wie keine. Um weitere Flüchtlinge von der Flucht abzuschrecken, untersagte die Regierung von Bangladesch Hilfsorganisationen bisher weitgehend die Verteilung von Lebensmitteln, schreibt Amnesty International.
Als ob die Flucht an sich nicht schon abschreckend genug wäre. Ohne Essen und ohne ein Dach über dem Kopf musste Abdul Monaf mit seiner Familie eine Woche lang in den Wäldern auf der anderen Seite der Grenze ausharren, bevor es ihnen gelang, den Grenzfluss nach Bangladesch zu überqueren. Abdul Monaf ist Mitte fünfzig. Er trägt einen grünen Longyi, den traditionellen Wickelrock, wie viele in Myanmar, und eine gehäkelte Gebetsmütze. Sein Haar ist grau, sein Vollbart auch. Zusammen mit 13 Familienmitgliedern sei er geflohen, nicht alle haben es bis nach Bangladesch geschafft. Zwei Cousins und zwei Neffen sind von den myanmarischen Sicherheitskräften aufgegriffen worden, sagt er. "Wir haben überall nach ihnen gesucht, aber wir haben sie nirgends mehr gefunden", erzählt er unter Tränen. "Ich kann nicht mehr, ich habe keine Kraft mehr, mir um sie Sorgen zu machen. Ihr Schicksal liegt nun in Gottes Hand."
Trotz Erlebnissen wie diesen wollen viele der Flüchtlinge hier so schnell wie möglich wieder zurück. Auch Sobiha Khatun. "Wenn es zuhause wieder Frieden gibt, bleiben wir keine Sekunde länger hier", sagt sie. Die alte Frau erzählt von der Flucht, auf der sie alles zurücklassen musste, auch zwei ihrer Söhne. Eine ihrer Töchter, sagt sie, wurde vergewaltig. Immer wieder fängt sie an zu schluchzen. Das Grauen, das sie gesehen hat, kann sie nicht vergessen. Und dennoch, sie will hier nicht bleiben, nicht in der Fremde ihren Lebensabend verbringen müssen, vertrieben, verfolgt. "Wir gehören nicht hierher", sagt sie, "das hier ist nicht unser Zuhause." Sobiha Khatun zeigt auf den Boden, in ihrem Gesicht spiegeln sich die Verzweiflung und der Schmerz. "Das hier ist nicht die Erde meiner Heimat", klagt sie. "Der Geruch der Erde in der Heimat lässt sich mit nichts anderem vergleichen. Ich möchte das noch ein einziges Mal riechen, bevor ich sterbe."