Russische Oppositionelle: "Putins Russland keine Festung"
2. August 2024"Surreal" - so fasst der russische Oppositionspolitiker Andrej Piwowarow seine Gefühle der vergangenen Stunden und Tage zusammen. Im Juli 2022 war er in seiner Heimat zu vier Jahren Straflager verurteilt worden. Aus Sicht des Gerichts leitete er eine "unerwünschte Organisation". Gemeint war die kremlkritische Gruppe "Offenes Russland". Jetzt sitzt Piwowarow in den Räumen der Deutschen Welle in Bonn, neben ihm die beiden anderen russischen Oppositionellen Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa.
"Vor ein paar Tagen waren wir noch ganz allein, jeder in seiner kleinen Zelle, jetzt sehen wir so viele Menschen." Rund 100 Journalisten und Beobachter sind zur Pressekonferenz gekommen, Fotoapparate blitzen, Kameras surren.
"Wir sitzen nicht alle in einer Festung und denken wie Putin"
Hinter den drei und den anderen Freigelassenen liegen anstrengende Tage. Am Donnerstag zunächst der Flug nach Ankara, wo der Austausch der Gefangenen aus Russland einerseits und von im Westen inhaftierten Russen andererseits erfolgte.
Am Donnerstagabend der Weiterflug nach Deutschland und die Ankunft am Flughafen Köln/Bonn. Dort erwartete sie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Natürlich sei es schön, wieder frei zu sein, betont Piwowarow. Aber seine Gedanken seien immer noch bei den vielen unschuldig Inhaftierten, die es in Russland immer noch gebe.
Und er beschwört die Journalisten in Bonn geradezu, seine Heimat nicht aufzugeben, nur weil dort gerade ein Tyrann das Sagen habe,Russlands Präsident Wladimir Putin.
"Es gibt sehr viele Bürger in Russland, die unsichtbar sind, die anders denken als Putin. Dieses Bild, dass wir alle in einer Festung sitzen, muss verschwinden." Und er ruft die Menschen in Deutschland auf, sich den Menschen in Russland wieder zuzuwenden.
Wortwechsel mit einem Geheimagenten
Neben Piwowarow ist auch Wladimir Kara-Mursa frei gekommen. Er sagt: "Ich fühle mich jetzt den zweiten Tag wie im Film. Noch vor wenigen Tagen waren wir in Isolationshaft, jetzt sind wir hier am Rhein zur Pressekonferenz gekommen."
Kara-Mursa ist ein russisch-britischer Politiker und Journalist, auf den mindestens zwei Giftanschläge verübt wurden und der im April 2023 zu 25 Jahren Strafkolonie verurteilt wurde, weil er den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt hatte.
Der Pulitzer-Preisträger leidet nach eigenen Angaben seit den Anschlägen an einer Erkrankung des Nervensystems. Von der aufreibenden Ausreise ist ihm vor allem in Erinnerung geblieben, dass jeder Austauschkandidat von einem russischen Geheimdienstagenten begleitet wurde.
"Und beim Start in Russland schaute mich meiner an und sagte: Schau ruhig hin. Du wirst Deine Heimat nie wiedersehen. Aber ich sagte ihm: Ich bin sicher, dass ich nach Russland zurückkehren werde - in ein freies Russland."
Jaschin: "Ich verstehe das deutsche Dilemma"
Auch der dritte Freigelassene, Ilja Jaschin, dankte der deutschen Regierung und insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz für seine "humanitären Bemühungen", wie er sich ausdrückte. Der 41-Jährige Jaschin war ein Vertrauter des 2015 ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow und Freund des in einem russischen Straflager verstorbenen Alexej Nawalny. Ende 2022 war er wegen Kritik am russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt worden.
Jetzt berichtet er von einem kurzen Gespräch mit Scholz am Donnerstag am Flughafen Köln/ Bonn. "Ich wandte mich an ihn und sagte, dass ich verstehe, wie schwer es ist, einen Mörder freizulassen. Im Austausch für einen Mörder hat man unschuldige Menschen freigelassen, die gar nichts verbrochen haben."
Er war Ende 2021 zu lebenslanger Haft in Deutschland verurteilt worden, weil er nach Überzeugung eines Berliner Gerichts im August 2019 einen aus Tschetschenien stammenden Georgier in der Hauptstadt erschossen hatte. Jetzt wurde er in Moskau von Putin persönlich empfangen.
"Putins Propaganda ist eine Lüge!"
Er verstehe das lange deutsche Zögern, diesem Austausch zuzustimmen, sagte Jaschin weiter. "In einer Demokratie ist nichts einfach, nur in einer Diktatur."
Und er zitierte einen Satz aus dem jüdischen Talmud, der durch Oskar Schindler berühmt wurde: "Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt."
Die Zeit in Haft, so Jaschin weiter, habe ihn eher gestärkt: "Ich habe so viele Briefe bekommen, das hat meinen Glauben an die Menschheit gestärkt. Putins Regime ist nicht Russland. Putins Propaganda ist eine Lüge!"
Doch mehr als Kara-Mursa und Piwowarow betont Jaschin, dass er gar nicht ausgetauscht werden wollte: "Ich wollte Russland nicht verlassen, denn ich sehe mich als russischen Patrioten. Ich habe meine Haft als Kampf für meine Rechte in meinem Land verstanden."
Er sehe seine Ankunft in Deutschland nicht als Ergebnis eines Austausches, sondern als Verbannung. Seine Stimme bricht, bevor er sagt: "Ich kann das nicht aushalten. Wenn ein Mensch sagt: Ich kann mein Land nicht verlassen. Und man wirft ihn ins Gefängnis."
Und er berichtet von seinen Gefühlen nach der Zwischenlandung in der Türkei: "Mein erster Wunsch in Ankara war es, ein Ticket zu kaufen und nach Russland zurückzukehren."
Ein Offizier des russischen Geheimdienstes habe ihm aber gesagt, wenn er das täte, würden seine Tage so enden wie die von Nawalny. Und der war im Februar dieses Jahres im Alter von 47 Jahren in einer Strafkolonie in der Arktis gestorben. Die genauen Todesumstände sind nach wie vor nicht geklärt.