Russland: Ein untergehender Archipel der Freiheit
10. Januar 2016Das Bild hat das Zeug, zur "Ikone des Jahres" 2015 zu werden: Ein junger Mann, hager, fast zerbrechlich, steht mit einem Benzinkanister in der Hand vor einer majestätischen Tür - den Pforten zur "Lubjanka". Das berüchtigte Gebäude im Zentrum von Moskau mit seinen unterirdischen Labyrinthen, in denen vor nicht allzu langer Zeit noch gefoltert wurde, ist Bastion jener Organisation, die das Riesenreich Russland seit Jahrzehnten regiert - des KGB, heute FSB genannt. Die Tür brennt.
Der Brandstifter wurde schnell gefasst. Mit seiner Aktion wollte er, Bürger Pyotr Pavlensky, gegen das "Machtmonster" protestieren, das die "Bevölkerung unterjocht und verblödet", so der Künstler. Und: Er will nicht wegen Vandalismus verurteilt werden, sondern wegen Terrorismus. Wenn der ukrainische Regisseur Oleg Senzov, der gegen die Krim-Annexion protestierte und im Juni zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, als Terrorist gilt, so möchte er, ein radikaler Aktionskünstler, diese Ehre auch für sich beanspruchen.
Auch wenn es sich nicht gehört, fremdes Eigentum zu beschädigen, ist Pavlenskys Aktion beinahe die einzige Kunstgeste, die in ihrer Drastik dem Ernst der Lage entspricht.
Der Spielraum wird immer enger
Von Rezession geplagt und verunsichert, kompensiert die russische Gesellschaft den schwindenden Wohlstand durch wachsenden Größenwahn, der von der Staatspropaganda geschürt wird. Mittlerweile ertönt sogar aus den Lautsprechern der Moskauer Metro Militärmusik. Durch die Straßen rollen Trolleybusse mit Zitaten aus Kriegsliedern statt Werbung an Bord, zum Beispiel "Schnell sind unsere Panzer". Tatsächlich sind neun von zehn Russen vom Muskelspiel des Kremls fasziniert, unter ihnen finden sich auch viele Künstler und Intellektuelle.
Allerdings ist das Anzetteln immer neuer kriegerischer Konflikte eine kostspielige Bespaßungsmaßnahme für das Volk. Auf Dauer braucht man einen stabilen Feind in der Ferne wie etwa die internationale Kunstszene, zu der auch russische Künstler gehören. Sie passt ins Schema der "Bedrohung aus dem Westen". So publizierte das russische "Institut für Strategische Forschungen", eine vom Präsidialamt finanzierte Ideologie-Schmiede, einen Bericht mit dem Titel "Moderne Kunst als Instrument zur Beeinflussung der Politik der Russischen Föderation". Bei der Lektüre wird jedem schnell klar: Die Vertreter und Anhänger der "sogenannten modernen Kunst" versuchen angeblich, das nationale Wertesystem zu unterwandern. Kein Wunder, dass der Staat für diese Kunst nicht aufkommen will.
"Die Zahl der Ausstellungsprojekte moderner Kunst ist mindestens zur Hälfte weggebrochen", sagt die in Sankt Petersburg lebende Künstlerin und Kuratorin Marina Koldobskaja, die im Sommer 2014 am Rahmenprogramm der "Manifesta" beteiligt war. "Es ist wirklich unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit die Freiräume verschwinden."
"Zwischen Keller, Knast und Emigration"
"Zwischen Keller, Knast und Emigration" - so betitelte Alek Epstein, Publizist und Gründer des Kunstpreises "Aktionskunst in Russland", einen Beitrag über die Art-Szene des Landes. "Leider gibt es nur diese drei Möglichkeiten", sagt Epstein.
Sprach man noch vor einem Jahr von einem "Archipel der Freiheit" der russischen Kultur, so kann man heute höchstens von einzelnen kleinen Inseln reden, die der offiziell-patriotischen Kultur trotzen. Zu ihnen gehört das Moskauer "theater.doc". Die kleine alternative Bühne musste ihren Keller im Zentrum von Moskau im Dezember 2014 räumen: Die Stadt Moskau hatte aus fadenscheinigen Gründen den Mietvertrag gekündigt. Seit einigen Monaten hat das Theater ein neues Zuhause außerhalb der Stadt. Für wie lange, das ist ungewiss. Deswegen nutzen die Theatermacher die Zeit. Ihre jüngste Produktion Anfang November 2015 hieß "Eine kurze Geschichte des Andersdenkens in Russland".
Eine Kompilation historischer Texte zeigt: Selbst in den reaktionärsten Zeiten hat es sie gegeben, die Freidenker. Man erinnere sich an den Publizisten Nikolaj Novikov, der sich mit Katharina der Großen anlegte, oder an Nikolaj Bucharin, der sich gegen Stalin aufbäumte. "Heute versucht man in Russland die Geschichte umzuschreiben und uns weiszumachen, die wichtigste russische Tugend sei Gehorsamkeit", sagt Elena Gremina, Leiterin des Theaters. "Wir jedoch zeigen allen: Auch die Freiheitsliebe ist Teil unserer Identität!"
Minister Vladimir Medinsky, Ordnungshüter offizieller Kultur, der den Slogan "Russland ist nicht Europa" aufbrachte, arbeitet weiter an seinem Masterplan der Vereinheitlichung der Kulturlandschaft im Sinne der herrschenden Ideologie: Umbesetzungen der Spitzenpositionen führender Kulturinstitutionen, Ausblutung der freien Theaterszene, Finanzierungsentzug für Filme, die Russland "in den Schmutz ziehen". Damit sind etwa Filme gemeint, die die Wunden der Gesellschaft aufzeigen, wie das für den "Oscar" nominierte Korruptions-Drama "Leviathan" von Andrej Zvjagintsev.
Der russischsprachigen Nobelpreisträgerin aus Belarus, Swetlana Alexijewitsch, deren Bücher zu Perestroika-Zeiten zum Schulprogramm gehörten, hat Medinsky nicht einmal gratuliert.
Licht im Osten
Wie zu düstersten Sowjetzeiten zeigen sich auch im heutigen Russland unvermutete Wege und Arten des Andersdenkens. "Wer ins Konzert geht, um Bach und Mahler oder aber Lachenmann und Rihm zu hören, wird nie behaupten, Russland gehöre nicht zur westlichen Zivilisation", sagt der Komponist Vladimir Tarnopolskij, Leiter des Studios für Neue Musik am Moskauer Konservatorium.
Auch der junge Dirigent Teodor Currentzis genießt Kultstatus. Der gebürtige Grieche, der sich vor kurzem einbürgern ließ, hat in Perm am Ural eine Kulturmetropole von Weltrang aufgebaut. Der Chef der Oper Perm und Gründer des Ensembles MusicAeterna wird als Messias der geistigen Freiheit gefeiert. Sein "Diaghilev-Festival" in Perm lockt die Elite der europäischen Kulturszene an die geografische Grenze zwischen Europa und Asien.
Allerdings steht die Finanzierung des Festivals, das von der Kulturbehörde der Stadt Perm mitgetragen wird, auf der Kippe: Der regionale Kulturminister Gladnev hat sich alternativ für die Förderung des Volksfestes "Veselij korovjak" entschieden. Der Name bedeutet wortwörtlich "Lustige Kuhfladen". Es handelt sich um einen Wettbewerb im Weitwurf eines getrockneten Batzen Rindvieh-Kots, angeblich ein alter Bauernbrauch. "Mit einem Kuhfladen kann ich es natürlich nicht aufnehmen", sagt Currentzis. Das Schlachtfeld will er trotzdem auf keinen Fall räumen.
Es ist eine Zeit mutiger Einzelgänger. Wie etwa der Rock-Sängerin Diana Arbenina, die vor einem Jahr gegen den Ukraine-Krieg protestierte. Daraufhin wurden Dutzende ihrer Konzerte abgesagt. Diana blieb standhaft: "Wenn man eine kleine Ratte ist, wenn man selbst nicht frei ist, dann ist man nie frei".
Die Autorin Anastassia Boutsko ist Kennerin der Kulturszene in Russland und Deutschland. Sie arbeitet als freie Journalistin in Bonn. Für die Deutsche Welle berichtet sie regelmäßig über Kultur und Kulturpolitik in Russland. Ihr Text entstand in Kooperation mit der Zeitschrift "Politik und Kultur" für das Projekt "Art of Freedom. Freedom of Art".