Russland oder EU? Georgien vor der Zerreißprobe
16. September 2024Georgien droht eine Diktatur mit Ansage - und damit das Ende aller Bestrebungen, Mitglied der Europäischen Union (EU) zu werden. Formell ist das Land im Südkaukasus seit Ende letzten Jahres Kandidat für einen EU-Beitritt. Doch kurz darauf legte Brüssel den Annäherungsprozess schon wieder auf Eis, weil Georgien ein Gesetz über "ausländische Einflussnahme" verabschiedet hatte. Es gibt dem Staat freie Hand, gegen kritische zivilgesellschaftliche Organisationen und missliebige Bürgermedien vorzugehen. Die Opposition nennt es halb abfällig, halb empört das "russische Gesetz". Denn es ähnelt bis ins Detail einer entsprechenden Gesetzgebung im autoritär regierten Russland.
Mitten im Wahlkampf gießt die Regierungspartei "Georgischer Traum" (GT) Öl ins Feuer: Premier Irakli Kobachidse hat angekündigt, nach seinem Wahlsieg die wichtigsten Oppositionsparteien zu verbieten. Zudem orakeln er selbst und andere Parteifunktionäre seit Wochen von einer "globalen Kriegspartei", die Georgien angeblich in einen Konflikt mit Russland treiben wolle. Beobachter deuten das als klaren Bruch mit dem Westen und als endgültige Absage an EU und NATO.
Die georgische Opposition verteilt sich auf fünf Parteienbündnisse, sie sind mehr oder minder liberal, konservativ oder sozialdemokratisch; bei allen inhaltlichen Abgrenzungen und Eifersüchteleien untereinander eint sie ihr proeuropäischer Kurs und ihre klare Haltung gegen das Putin-Regime. In einer gemeinsamen Erklärung haben sich die Oppositionsparteien jüngst dazu verpflichtet, ihre Animositäten in diesem Wahlkampf hintanzustellen und gemeinsam gegen die autokratische, antieuropäische Bedrohung durch den GT anzutreten.
Warum hat Georgien die Richtung gewechselt?
Verantwortlich für Georgiens außenpolitischen Richtungswechsel ist der Milliardär Bidsina Iwanischwili, der sein Vermögen in Russland gemacht hat. Er hat den GT gegründet, war etwas mehr als ein Jahr lang selbst georgischer Premierminister, bevor er sich ab Ende 2013 jahrelang als Strippenzieher im Hintergrund hielt. Nun macht Iwanischwili wieder Wahlkampf für seine Partei und predigt sein antiwestliches Credo auf GT-Kundgebungen: "Die gewaltsamen Versuche, pseudo-liberale Werte von außen aufzuzwingen" würden bald endgültig beendet.
Ausländischen Journalisten gegenüber schottet er sich ab, das Führungspersonal seiner Partei tut es ihm nach. Ein GT-Unterstützer, der Manager eines großen staatsnahen Betriebs, will anonym bleiben, versichert aber, die EU-kritischen Töne im GT-Wahlkampf seien "reine Rhetorik", Georgien bleibe auf Europakurs. Der Partei gehe es lediglich um einen Ausgleich mit Russland, mehr sei da nicht. Tatsächlich zeigen die GT-Wahlplakate die Europaflagge, die Kampagne steht insgesamt unter der Losung "Mit Frieden, Würde und Wohlstand nach Europa".
Täuscht die Regierungspartei EU-Nähe vor?
Das wahre Täuschungsmanöver sei die Anbiederung an Europa, meint Schota Utiaschwili von der Rondeli-Stiftung: "Die Wahrnehmung der Oppositionswähler soll vernebelt werden. Wenn beide Seiten für die EU sind, warum soll man dann noch die Opposition wählen?" Die Regierungspartei wolle die Wahl nicht wie eine Entscheidung zwischen der EU oder Russland aussehen lassen, sondern wie eine Entscheidung zwischen Krieg und Frieden.
Russland, der übermächtige Nachbar im Norden, war über Jahrhunderte Vormacht im Kaukasus, in Zaren- wie in Sowjetzeiten. Moskau führte 2008 einen Fünf-Tage-Krieg gegen das unabhängige Georgien, hat seitdem mit Abchasien und Südossetien zwei georgische Regionen zu russischen Militärbasen ausgebaut, die es zudem als Staaten anerkannt hat. Der Verlust der beiden Provinzen ist ein Trauma für die meisten Georgier: So sagten im Jahr 2020 bei einer repräsentativen Umfrage der Stiftung Carnegie Europe 78 Prozent, die Heimholung der beiden Regionen sei wichtiger als ein Beitritt zu EU und NATO; nur 13 Prozent sahen es umgekehrt, für sie hat die euro-atlantische Integration Priorität vor der Wiederherstellung der territorialen Integrität. Auch auf dieser Klaviatur spielen die Wahlkämpfer der Regierungspartei.
Wird aus Tiflis jetzt "Minsk 2.0"?
Wer in diesen Tagen in Tiflis danach fragt, welches Wahlergebnis denn das denkbar schlechteste sei, bekommt unterschiedliche Antworten: Westliche Diplomaten und Beobachter sehen bei einer Zweidrittel-Mehrheit für die Regierungspartei den Weg geebnet, legal eine Diktatur zu errichten. In der Zivilgesellschaft ist immer wieder das Schlagwort "Minsk 2.0" zu hören - es benennt die Angst, die Regierung in Tiflis könnte bald politisch ähnlich repressiv vorgehen wie die in Minsk, der Hauptstadt von Belarus.
Die Angst vor Gewaltausbrüchen, vor allem bei einem knappen Wahlausgang, scheint real: "Der Worst Case wäre, dass der GT die Wahlergebnisse fälscht, was Proteste der jungen Leute, vor allem der Studenten hervorrufen wird, die sich nicht einschüchtern lassen. Das könnte zu Unruhen führen", analysiert Nodar Charschiladse, Gründer des Thinktanks Georgian Analytical Center. GT-Übervater Bidsina Iwanischwili selbst habe das Worst-Case-Szenario vorgezeichnet, meint dagegen George Melaschwili vom Thinktank Europe Georgia Institute: "Die totale Vernichtung der Opposition, die Festigung autoritärer Macht in einem Ein-Parteien-Staat." Auch Melaschwili hält es für denkbar, dass sich nach der Wahl die Spannungen auf der Straße mit Gewalt entladen.
Ende August drohte Sergej Naryschkin, Putin-Vertrauter und Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, indirekt mit einem russischen Eingreifen, falls der Moskau-freundliche GT die Wahl nicht gewinne. Doch das nimmt in Tiflis niemand so recht ernst. Theaterdonner sei das, rhetorisches Säbelrasseln aus Moskau, so die einhellige Einschätzung. "Die russischen Militärbasen in Abchasien und Südossetien sind leer, ebenso wie die Kasernen im (russischen) Nordkaukasus", erklärt Sicherheitsexperte Schota Utiaschwili. Russland habe wegen des Krieges in der Ukraine und wegen der Kämpfe im Kursker Gebiet derzeit nicht die militärische Kraft, um in Georgien zu intervenieren.
Diese Einschätzung ist in diesen Wahlkampftagen in Tiflis der einzige positive Ausblick auf das, was dem Land in den nächsten Wochen bevorstehen könnte. Der 26. Oktober wird Georgien verändern.