Impfskepsis unter russischen Ärzten
15. Juli 2021Die Zahl der Corona-Toten in Russland hat in den vergangenen Tagen einen neuen Höchststand erreicht. Seit dem 6. Juli sterben in Russland täglich mehr als 700 Menschen. Die dritte russische Coronavirus-Welle begann im Juni in Moskau und breitete sich von dort allmählich auf die anderen Regionen des Landes aus. Sie erwies sich als die bisher tödlichste der gesamten Pandemie.
Laut offiziellen Angaben haben 28,5 Millionen Einwohner Russlands mindestens eine Dosis eines Coronavirus-Impfstoffs erhalten. Rund 19 Millionen Menschen sind vollständig geimpft. Das sind etwa 13 Prozent der Bevölkerung des Landes. Dem leitenden Epidemiologen des russischen Gesundheitsministeriums Nikolaj Briko zufolge müssten aber mindestens zwei Drittel der Menschen geimpft sein, um die Corona-Pandemie langfristig in den Griff zu bekommen.
Russen schöpfen nur langsam Vertrauen in Impfstoffe
Heute stehen den Russen vier Vakzine zur Verfügung: der am weitesten verbreitete Impfstoff Sputnik V, Sputnik Light, EpiVacCorona und CoviVac. Mit ausländischen Impfstoffen kann man sich in Russland nicht impfen lassen. Sie sind dort offiziell noch nicht zugelassen und könnten erst in etwa einem Jahr auf den Markt kommen.
Auch wenn laut Umfragen das Vertrauen der Russen in eine Impfung allmählich steigt, wird sie noch immer von über der Hälfte der Erwachsenen abgelehnt. Viele fürchten Nebenwirkungen oder wollen zunächst die Ergebnisse von Impfstudien abwarten.
Umfragen zeigen auch, dass vor allem das persönliche Verhältnis zwischen Arzt und Patienten eine wichtige Rolle dabei spielt, welchen Informationen die Menschen trauen. Doch ein Drittel der russischen Ärzte will sich selbst nicht impfen lassen. Eine generelle Impfpflicht gibt es nicht. Allerdings wurde seit Mitte Juni zunächst in Moskau und dann nach und nach in weiteren 28 Regionen eine Impfpflicht für Servicemitarbeiter und Beamte eingeführt, nicht aber für Ärzte. Es wird vermutet, dass erst nach den Wahlen zur Staatsduma im September eine Impfpflicht für Mediziner und Lehrer eingeführt werden könnte. Die beiden Berufsgruppen bilden eine wichtige Wählerschaft der Regierungspartei "Einiges Russland" - sie sollen womöglich nicht verprellt werden.
Ärzte nehmen sich Impfskeptiker unter Kollegen vor
Die DW hat mit Ärzten, die sich für Impfungen stark machen, darüber gesprochen, wie sie Impfgegner und -skeptiker unter ihren Kollegen von einer Impfung überzeugen wollen. Ilja Fominzew, Onkologe und Gründer der russischen "Cancer Prevention Foundation", sammelte durch Crowdfunding Geld und gründete einen kostenlosen COVID-19-Beratungsdienst. Vor kurzem begann er, in einem Café öffentliche Vorträge über die Vorteile einer Impfung zu halten, nach denen sich jeder Besucher gleich vor Ort impfen lassen kann. Fominzew hat viele Follower in sozialen Netzwerken. Unter den Kommentaren zu seinen Posts finden sich jedoch auch oft Beiträge von Ärzten, die mit ihm streiten.
"Ein Skeptiker wechselt entweder auf die Seite der Impfbefürworter oder stellt sich hinter die Verschwörungstheoretiker. Für eine Impfverweigerung gibt es keine rationalen Gründe. Aber die Verschwörungstheoretiker sind unter Ärzten Gott sei Dank in der Minderheit", sagt Fominzew - und fügt hinzu, Ärzte würden über Antikörper und die Folgen einer Impfung debattieren, aber wirklich wichtig sei, ob ein Impfstoff wirke oder nicht. "Die Nebenwirkungen sind im Verhältnis zum Nutzen so gering, dass sie nicht der Rede wert sind", betont Fominzew. Er meint, dass die Einstellung zur Impfung ein guter Indikator dafür ist, ob ein Arzt gut ist oder nicht.
"Uns bleibt zur Impfung keine andere Wahl"
Der bekannte russische Mediziner Jaroslaw Aschichmin meint, es sei sehr schwierig, Ärzte zu überzeugen. In letzter Zeit tritt er vermehrt auf öffentlichen und fachspezifischen Plattformen auf, wo er über den Nutzen von Impfungen spricht und direkt mit Ärzten diskutiert. Wichtig sei es, ehrlich zu sein und die Dinge beim Namen zu nennen, meint er.
"Ich sage: Ja, wir wissen nicht, welche langfristigen Nebenwirkungen ein Impfstoff hat. Ja, viele Statistiken werden im Land nicht erhoben. Aber wir arbeiten unser ganzes Leben lang in Unsicherheit und wägen Risiko und Nutzen ab. In diesem Fall ist es aber viel wahrscheinlicher, dass das Coronavirus beispielsweise die Fortpflanzungsfunktion negativ beeinflusst als eine Impfung", erläutert Aschichmin.
Er erinnert Ärzte daran, dass sie im Sinne der öffentlichen Gesundheit handeln und so viele Menschen wie möglich impfen müssen. Womöglich gebe es Nebenwirkungen, aber die seien im Vergleich zum Gesamtschutz der Gesellschaft das weitaus geringere Übel: "Natürlich", sagt er, "das beste Konzept aus Sicht eines Patienten ist, sich im Keller zu verkriechen und als letzter wieder herauszukommen, wenn alle schon geimpft sind." Praktikabel sei das aber nicht. "Wir gaukeln nicht vor, das alles sicher ist, aber wir sagen: Das hier ist ein Krieg und uns bleibt zur Impfung keine andere Wahl."
Eines der zentralen Probleme der russischen Medizin, das besonders während der Pandemie deutlich wurde, ist Aschichmin zufolge ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft, gespeist aus einem mangelndem Wissen darüber, was wissenschaftliche Methode und evidenzbasierte Medizin sind. "Wenn ein Arzt nicht über ein klares wissenschaftliches Werkzeug verfügt, stürzt er sich in den Abgrund der persönlichen Erfahrung. Und zuzugeben, dass die eigene Erfahrung vielleicht kläglich ist und evidenzbasierte medizinische Daten ihr widersprechen, ist psychologisch sehr schwierig", so Aschichmin.
Er ist überzeugt, dass viele russische Ärzte auf neue Behandlungsmethoden erst einmal mit Misstrauen reagieren. Doch der Druck, der auf die Mediziner ausgeübt worden sei, als Impfungen ohne genaue Erläuterung und Erhebung von Daten zu Nebenwirkungen von oben angeordnet worden seien, habe das Misstrauen unter Ärzten nur verstärkt.
Erkrankung von Kollegen stimmt Skeptiker um
Auch Maria Sokolowa, Chefärztin an einer Moskauer Poliklinik und eine Vertreterin der regierenden Partei "Einiges Russland", musste Kollegen von den Vorteilen einer Impfung überzeugen. "Das ist normal. Der Impfstoff kam so plötzlich und er bringt gewisse Ängste mit sich. Ich würde nicht sagen, dass es Ärzte gibt, die Impfungen kategorisch ablehnen", sagt sie.
Ihr zufolge habe es aber tatsächlich eine Zeit gegeben, in der Ärzte versucht hätten, andere von einer Impfung abzuhalten. Doch dies sei jetzt vorbei. Nun seien fast alle Ärzte in ihrer Klinik geimpft, mit Ausnahme derer, die Kontra-Indikationen hätten oder vor weniger als einem halben Jahr selbst am Coronavirus erkrankt gewesen seien. "Auch diejenigen, die gestern noch 'Nein' gesagt haben, haben ihre Meinung geändert, als sie sahen, wie Kollegen erkrankten. Die Angst vor dem Sterben ist stärker als die vor einer Impfung. Und das ist auch gut so", sagt Sokolowa.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk