Samuel Maoz: "Ich werde in Israel als Verräter beschimpft"
12. Juli 2018Samuel Maoz ist Drehbuchautor und Regisseur. Sein erster Spielfilm "Libanon" gewann 2009 den Goldenen Löwen in Venedig. Es ist die autobiographische Verfilmung von Samuel Maoz Einsatz als Panzerschütze im ersten Libanon-Krieg. "Foxtrot" ist sein zweiter Spielfilm. Er gewann im vergangenen Jahr den Großen Preis der Jury in Venedig, den Silbernen Löwen. Samuel Maoz lebt und arbeitet in Tel Aviv. Mit der DW sprach er über seinen neuen Film.
DW: Die erste Szene in "Foxtrot" hat es in sich. Sie zeigt Eltern, die erfahren, dass ihr Kind tot ist. Es ist der wohl schrecklichste Moment, den Eltern, egal wo auf der Welt, erleben können. Inwiefern ist die Geschichte, die Sie erzählen, dennoch spezifisch israelisch?
Wenn dein Kind Dienst in der israelischen Armee leistet, braucht es nur ein Klopfen an der Tür. Du öffnest, siehst einen Offizier, eine Soldatin und einen Arzt und du weißt, was passiert ist. Sie brauchen kein Wort zu sagen. Vor diesem Moment hat jeder Israeli Angst. Denn jeder junge Mann und jede junge Frau hier muss Armeedienst leisten.
Haben Sie einen solchen Moment in Ihrer Familie erlebt?
Es gibt eine persönliche Geschichte zu dieser Szene, aber sie geht anders: Als meine älteste Tochter zur Schule ging, war sie immer zu spät dran und wollte, dass ich ihr ein Taxi rufe. Eines Morgens wurde ich wirklich wütend und sagte, sie müsse den Bus nehmen. So wie alle anderen auch. Zwanzig Minuten nachdem sie gegangen war, hörte ich im Radio, dass ein Terrorist sich im Bus der Linie 5 - den sie nehmen musste - in die Luft gesprengt und Dutzende Menschen getötet hatte. Ich versuchte, in der Schule anzurufen, aber das Kommunikationsnetz war zusammengebrochen. Eine Stunde später kam sie nach Hause. Sie hatte den Bus nur um ein paar Sekunden verpasst, ihn noch an der Haltestelle gesehen, war gerannt, hatte gewunken, aber er war abgefahren. Sie hatte den nächsten Bus genommen.
Wissen Sie, ich war Soldat im Libanon-Krieg und habe in blutigen Schlachten gekämpft. Aber diese Stunde war die schlimmste meines Lebens. In "Foxtrot" wollte ich diese Kluft erkunden, zwischen Dingen, die wir kontrollieren und jenen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Das steht im Zentrum der Gefühlsebene des Films. Aber es gab auch eine weitere Motivation für den Film.
Welche?
Ich muss ausholen und auf meinen ersten Spielfilm zurückkommen, "Libanon". Es ist meine persönliche Geschichte als Panzerschütze. Bildlich ist er aus der Perspektive aus dem Panzer heraus erzählt, emotional aus der Perspektive des 20-jährigen Kindes, das ich damals war. Ein Kind, das nie zuvor Gewalt erlebt hatte und das sich eines Morgens mitten in der Hölle in blutigen Schlachten wiederfand und Menschen tötete. Ich wusste damals, es gab keinen Ausweg, sonst würde ich heute nicht hier sitzen. Und doch fühlte ich mich schuldig, für das, was ich getan hatte - das gilt noch heute. Ich war nie in psychologischer Behandlung, aber ich weiß, dass ich hinterher wohl unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litt.
War der Film Ihre Art von Therapie?
Das war nicht die Motivation, aber ein überraschendes Nebenprodukt des Films. Ich spreche in "Libanon" zwar über mich persönlich, aber nachdem der Film herausgekommen war, wurde mir klar, dass ich gar nicht so allein war, wie ich all die Jahre gedacht hatte. Die israelische Gesellschaft hat viele Versionen meiner selbst hinterlassen, zu viele. Also fragte ich mich, warum verhalten wir - die israelische Gesellschaft - uns so, wie wir es tun? Das ist die große Frage in "Foxtrot".
Und Ihre Antwort?
Die simple und zugleich komplexe Antwort lautet, weil wir eine traumatisierte Gesellschaft sind. Die Erinnerung an unser Trauma, der Holocaust und die Unabhängigkeitskriege danach, diese Erinnerung ist nach wie vor stärker als jede Realität oder Logik. Das Trauma wird von einer Generation an die nächste weitergegeben - als permanentes Gefühl der Existenzbedrohung, das wiederum zu einem nie endenden Krieg führt. Dabei ist unser heute so hoch technologisches Land, das eine Atomwaffe besitzt, nicht in seiner Existenz bedroht, zumindest nicht mehr als jedes andere Land. Unsere traditionellen Feinde sind nicht länger relevant.
Dafür gibt es neue Feinde…
Ich sage ja auch nicht, dass wir überhaupt keine Armee mehr brauchen. Aber man kann die derzeitige Situation doch nicht mit dem Holocaust vergleichen! Wir tun aber so, als wäre es dieselbe Bedrohung. Gerade erst haben wir drei U-Boote gekauft - übrigens von Deutschland. U-Boote gegen wen? Etwa gegen Gaza? Wir haben bereits U-Boote und eine riesige Armee. Aufgrund des Traumas ändern wir unsere Prioritäten nicht. Und die Politik springt auf diesen Zug auf.
In "Foxtrot" wird das Trauma von der deutschen Großmutter, die den Holocaust überlebt hat, an den Sohn weitergegeben, der im Libanonkrieg gekämpft hat, der es wiederum an seinen Sohn weitergibt, der als Soldat an einem Checkpoint in den besetzten Gebieten ein Verbrechen begeht.
Meine Mutter war eine Überlebende - so wie Michaels Mutter im Film. Das Problem unserer Generation ist: Wir konnten uns niemals über irgendetwas beklagen. Unsere Eltern und Lehrer zeigten die Nummern, die auf ihre Arme tätowiert waren und riefen uns den lieben langen Tag zu: "Wir haben den Holocaust überlebt. Wer seid ihr verwöhnten Kinder, die in einem sonnigen Land mit blauem Meer und Orangen geboren seid? Wer seid ihr, dass ihr euch beschwert?"
Alles drehte sich um den Holocaust. Es war irrwitzig. Als ich mit einer sechs in Mathe nach Hause kam, sagte meine Mutter: "Dafür habe ich den Holocaust überlebt? Für eine sechs in Mathe?" Als ich aus dem Libanonkrieg zurückkehrte, stand es außer Frage zu behaupten, ich sei verwundet worden. Schließlich hatte ich noch zwei Arme, zwei Beine und keine Narben. "Sei ein Mann! Komm drüber hinweg! Wir haben den Holocaust überlebt."
Was ist mit der nächsten Generation? Die Scharfschützen an der Grenze zu Gaza - an der in den letzten Wochen mehr als 130 Palästinenser erschossen wurden - sind ungefähr in dem Alter, in dem sie damals waren, als sie in den Libanon geschickt wurden.
Die Soldaten selbst sind in gewisser Hinsicht selbst Opfer. Das sind Kinder. In der Armee kriegen sie eine Gehirnwäsche. Ich verurteile nie die Soldaten selbst. Sie sind nur diejenigen, die das alles ausführen. Es ist einfach, einem Kind eine Waffe zu geben. Aber es ist nicht der Mörder, du bist es. Diese Kinder werden auch noch leiden. Vielleicht nicht heute, aber in zehn Jahren. Dann werden sie verstehen, was sie getan haben. Unsere Gesellschaft produziert eine traumatisierte Generation nach der nächsten.
Wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden?
Die Aussage des Films ist vielleicht, dass man seinem Schicksal nicht entkommen kann. Aber nicht, weil es eine göttliche Vorsehung gibt, sondern weil der traumatisierte israelische Mann das Kollektiv prägt. Der kleine Schritt, den es bedürfte, um uns aus dieser immer wiederkehrenden Schrittfolge des "Foxtrot" zu befreien, muss von einem mutigen Menschen ausgehen. Wir hatten mal einen solchen Mann: Yitzhak Rabin. Aber er wurde ermordet und mit ihm der Traum. In einem Interview kurz vor seinem Tod sagte ihm ein Journalist, die Mehrheit der Israelis wolle seinen Friedensplan nicht. Darauf antwortete er: "Dann liegt die Mehrheit falsch." Manchmal braucht es einen Hirten, der versteht, dass die Schafe - das Volk - nicht immer richtig liegen.
Die israelische Kulturministerin, Miri Regev, kritisierte den Film harsch. Er würde den "guten Namen der IDF (Israel Defense Forces) beschmutzen", weil in einer Szene gezeigt wird, wie junge israelische Soldaten Palästinenser an einem Checkpoint in ihrem Auto töten und die Spuren des Verbrechens kaschieren.
Sie hat den Film schon angegriffen bevor er überhaupt herausgekommen war. Sie hatte ihn nicht einmal gesehen! Es handelt sich nicht um einen Dokumentarfilm und daher muss er keine objektive Wahrheit zeigen. Die Wahrheit in meinem Film ist dramatischer und künstlerischer Natur. Aber die Tatsache, dass ich es gewagt habe, diese Armee, unseren rettenden Engel, zu kritisieren, die uns aus unserem vergangenen Trauma befreit hat, macht mich für einen Großteil der israelischen Gesellschaft zu einem Verräter. Dass ich im Libanonkrieg gekämpft und einen hohen Preis gezahlt habe, spielt keine Rolle mehr. Ich bin ein Verräter weil die Ministerin mich dazu erklärt hat. Sie hat einen Großteil der Menschen, die den Film nicht gesehen haben, aufgestachelt. Letztlich hat sie dadurch aber nur genau das bestätigt, was ich in dem Film zu zeigen versuche. Zu Beginn war das für mich eine Errungenschaft.
Heute nicht mehr?
In vielerlei Hinsicht hat sie geholfen, die Debatte, die der Film ja hervorrufen wollte, tatsächlich zu entfachen, aber persönlich änderten sich meine Gefühle, als ich Drohungen bekam. Jemand schrieb mir: "Wenn du dein Haus verlässt" - und er nannte die korrekte Adresse - "dann werde ich auf dich warten und dir Säure ins Gesicht spritzen. Ich will, dass du blind bist und nie wieder Filme machen kannst." Und das Übliche hier in Israel: "Deine Familie ist nicht in den Gaskammern gestorben, also werden wir Gaskammern schaffen für dich, deine Familie und all linken Tel Aviver Künstler." Es gibt keine rote Linie mehr. Als das anfing, ging ich nur noch mit Sonnenbrille raus. Heute nicht mehr.
Wird ihr nächster Film dennoch Kritik an Israel äußern?
Mit der Armee bin ich durch. Zumindest im Moment. Mein neuer Film ist ein Frauenfilm, er handelt von einer Mutter und ihrer Tochter. Es ist ein starkes menschliches Drama ohne jegliche politische Botschaft. Es geht um allgemeine Werte im Leben.
Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, ohne pathetisch zu klingen, aber ich glaube, eine Gesellschaft muss stets danach streben, besser zu werden. Und die Voraussetzung dafür ist, selbstkritisch zu sein. Wenn Kritiker aber zu Verrätern gemacht werden, kann es nur noch bergab gehen. So wie in "Foxtrot". Wenn ich diesen Ort, an dem ich lebe, kritisiere, dann weil ich mich um ihn sorge, ihn beschützen will und weil ich ihn liebe.
"Foxtrot" läuft ab dem 12. Juli in deutschen Kinos.
Das Gespräch führte Sarah Judith Hofmann.