Scharfe Töne im Antisemitismus-Streit
7. Januar 2004Zu tiefer Verstimmung und gegenseitigen Beschuldigungen zwischen der EU-Kommission und jüdischen Verbänden ist es gekommen, nachdem Kommissionspräsident Romano Prodi am Dienstag (7.1.2004) überraschend bekannt gab, dass die Abhaltung eines gemeinsamen Seminars über Antisemitismus in Europa auf unbestimmte Zeit verschoben, wenn nicht sogar überhaupt gestrichen würde. Die Veranstaltung, die im Februar hätte stattfinden sollen, war von der Kommission in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Weltkongress geplant worden. Zuvor hatten Untersuchungen ergeben, dass antijüdische Übergriffe und andere Erscheinungsformen des Antisemitismus in Europa in letzter Zeit ein zumindest für die letzten Jahre unvergleichbares Ausmaß angenommen haben.
Absage mit offenem Brief begründet
Statt mit dem Seminar gegenseitige Irritationen auszuräumen, ist es nun erst recht zum Knall gekommen. Der Präsident der EU-Kommission, Romano Prodi, begründete die Absage des Seminars mit einem offenen Brief, den die Vorsitzenden des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, und des Europäischen Jüdischen Kongresses, Coby Benatoff, in der "Financial Times" veröffentlichen ließen. Hierin warfen beide der EU vor, es "an gutem Willen und Anstand mangeln" zu lassen.
Der Vorwurf: Die EU habe einerseits eine Umfrage veröffentlicht, in der Israel von einer Mehrheit der befragten Europäer als "größte Gefahr für den Weltfrieden" bezeichnet wurde. Andererseits aber hätten die Europäer die Publizierung einer Untersuchung verhindern wollen, in der von wachsendem Antisemitismus in Europa berichtet wurde.
Vorwurf: "Intellektueller Verrat"
Während die jüdischen Funktionäre der EU "intellektuellen Verrat und moralische Unaufrichtigkeit" vorwerfen und ihr unterstellen, solch selektiver Umgang mit den Themen Juden, Antisemitismus und Israel zeuge von politischer Motivation, verwahrt sich Kommissionspräsident Prodi gegen solch einen Vorwurf. Er sei "überrascht und schockiert" - und er habe nicht glauben wollen, dass die beiden Verbandspräsidenten solch einen Brief verfassen könnten. Nachdem dies aber geschehen sei, bleibe ihm nichts anderes übrig, als die Vorbereitungen zu dem geplanten Seminar abzubrechen.
Ungeteilte Zustimmung dürfte das massive Vorpreschen der beiden EU-Kritiker auch in jüdischen Organisationen nicht finden. Dort ist man zwar besorgt über eine Welle antisemitischer Vorkommnisse. Aber man hatte sich gerade deswegen um eine gemeinsame Aufarbeitung dieser Erscheinung bemüht und hatte die Planung des Seminars als ersten sichtbaren Erfolg gewertet.
Rückschlag für die Basis
Die Absage und die damit verbundene Verstimmung zwischen der EU und den jüdischen Dach-Organisationen dürfte für viele an der Basis ein herber Rückschlag sein. Stellvertretend für sie ließen ungenannte israelische Offizielle inzwischen wissen, dass sie diese Entwicklung nicht für förderlich hielten. Für die Attacke der jüdischen Organisationen gegen die EU habe es zu diesem Zeitpunkt keinerlei Anlass gegeben.
Solch maßvolle Reaktion in Israel überrascht. Denn in Jerusalem hat man es in der Vergangenheit immer wieder verstanden, das Ausland mit dem Hinweis auf Antisemitismus zu einer Israel gefälligeren Politik zu bewegen, während man umgekehrt Israel-Kritikern oft antisemitische Motive vorwarf.
"Gefahr für den Weltfrieden"
Genau so war es noch bei der Umfrage geschehen, bei der eine Mehrheit der befragten europäischen Bürger Israel als "Gefahr für den Weltfrieden" bezeichnete: Solche Meinungen könnten doch nur einer antisemitischen Grundhaltung entspringen, kritisierte man damals in Israel. Und man warf den Organisatoren der Umfrage - also der EU - auch vor, aus ähnlichen Motiven gehandelt zu haben.
In der zweiten Umfrage hatten Antisemitismus-Forscher festgestellt, dass ein beträchtlicher Teil der jüngsten antijüdischen Zwischenfälle in Europa ihre Ursprünge im israelisch-palästinensischen Konflikt hätten. Zum Beispiel in Frankreich, wo ein hoher Prozentsatz antijüdischer Vorfälle auf das Konto nordafrikanisch-arabischer Täter gehen, die hiermit eine falsch verstandene Solidarität mit den Palästinensern zum Ausdruck bringen wollten.