"Scheitern Europas nicht auszuschließen"
28. Juni 2015Brüssel stand am vergangenen Wochenende im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit. Was dort beschlossen wurde, wurde auch am anderen Ufer des Atlantiks aufmerksam registriert. Und es löste Betroffenheit aus. Europa habe seinen Offenbarungseid erlebt. Die Staaten der Europäischen Union hätten sich an diesem Wochenende politisch entmündigt. Denn Abweichlern zeigten sie die Rote Karte. Die Regierung Tsipras habe das erfahren müssen, da ihr nach der Verkündung des Referendums weitere Hilfsgelder gestrichen wurden. So sieht es die "New York Times", so sieht es jedenfalls deren Kolumnist, der Nobelpreisträger Paul Krugman. "Was immer sie während des Wahlkampfs gesagt haben, am Ende beugen sich die Regierungen den Forderungen der Troika. Dieser Prozess hat die Währung zwar zusammengehalten. Aber er hat auch ein zutiefst zerstörerisches Austeritätsprogramm entfaltet." Und dem kann man nicht trauen, findet Krugman.
Die Suche nach Verantwortlichen
Doch wer ist verantwortlich für das Scheitern der Brüsseler Gespräche? Die griechischen Verhandlungsführer, schreibt die spanische Tageszeitung "ABC". "Tsipras und Varoufakis haben ihre Gesprächspartner zur Verzweiflung gebracht. Und zwar so sehr, dass sie in einer essentiellen Frage einen Bruch erreicht haben. Das ging so weit, dass zuletzt ein Communiqué verfasst wurde, in dem dieser Bruch offiziell festgehalten wird. 'Die Minister der Eurostaaten mit Ausnahme Griechenlands', heißt es da - was immer das bedeuten mag."
Ähnlich sieht es die italienische Tageszeitung "Corriere della Sera". Auch sie verortet die Verantwortlichen für das Scheitern in Athen. "Während der Verhandlungen mit den Gläubigern haben Tsipras und Varoufakis niemals den Eindruck erweckt, sie würden aufrichtig verhandeln und eine Einigung anstreben. Sie haben niemals ernsthaft die Absicht gehabt, Reformen einzuführen, die aus Griechenland ein wettbewerbsfähiges Land machen könnten. Vor allem haben sie ihre Gesprächspartner dazu gedrängt, europäische Gelder zu bewilligen, ohne im Gegenzug Garantien zu geben." Und nun das Referendum - "das war zu viel", schreibt "Corriere della Sera".
"Noch ein Abschiedswalzer"
Anders sieht es die französische Zeitung "La Tribune". Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble habe sich durchgesetzt, schreibt sie. "Er hat noch am Freitag (26.06.) wiederholt, dass die Glaubwürdigkeit der Eurozone wichtiger als ihre 'Integrität' sei." Die Hauptverantwortliche für diesen Kurs sei aber Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Sie lehnte es ab, die Verantwortung für eine politische Einigung mit Griechenland zu übernehmen, da sie die griechischen Schulden nicht umstrukturieren wollte. Darum hat sie die Diskussionen in eine Sackgasse laufen lassen." Die Entscheidung vom Samstag habe Konsequenzen, schreibt das Blatt. "Die Eurozone ist nun nicht mehr die Währungszone der EU, wie es die Verträge vorsehen. Sie ist auch nicht mehr Ausdruck eines politischen Willens. Sie ist eine feste Wechselkursszene, die man nach Belieben verlassen kann."
Sind wirklich die Deutschen verantwortlich für das Ende der Gespräche? Nein, meint die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Sie sieht die Verantwortung vor allem bei Alexis Tsipras. "Tsipras' Claqueure unterschlagen gern, dass es nicht etwa nur die böse Bundesregierung und der Internationale Währungsfonds sind, die sich gegen die Athener Zumutungen wehren. Die Regierung Tsipras hat es geschafft, die gesamte Eurozone gegen sich aufzubringen. Nun, da der Athener Dilettantenball bald zu Ende geht, hat sie beim Orchester noch einen Abschiedswalzer bestellt. Tsipras hatte als Ministerpräsident ein Blind Date mit der Realität, doch recht schnell wurde klar, dass aus den beiden kein Paar werden würde. Sie harmonieren nicht miteinander. Man könnte auch sagen: Die Realität hat den Bezug zu Tsipras verloren."
"Der Euro, dieses lächerliche Konstrukt"
Zu noch einer anderen Deutung kommt die französische Zeitung "Libération". Für sie liegt die Hauptverantwortung für das Scheitern beim Internationalen Währungsfond. Der setze immer auf dieselben Instrumente: Kurzfristige Kredite, die den betroffenen Staaten über die drängendsten Probleme hinweghelfen. Im Gegenzug Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben, Steuererhöhungen, Umstrukturierungen der Schulden. "Das Problem ist, dass diese Werkzeuge im Fall von Griechenland nicht greifen. Die Währung lässt sich nicht abwerten, und die europäischen Partner lehnen jede weitere Umschuldung ab." Christine Lagarde, die Vorsitzende des IWF, sei in Brüssel sehr hart aufgetreten, schreibt "Libération" weiter. "Aber sie kann nicht machen, was sie will. Der IWF besteht mehrheitlich aus Ländern, die unendlich ärmer als Griechenland sind. Und die nehmen die Sonderbehandlung Griechenlands schwerlich hin. Denn kein Land hat jemals eine solche Hilfe erhalten."
Nein, die Griechen sind nicht die Hauptverantwortlichen, schreit auch der britische "Telegraph". "Die eigentlich Verrückten sind diejenigen, die den Euro schufen, dieses lächerliche Konstrukt. Es sind jene, die annahmen, politische Träume und politische Eitelkeit könnten wirtschaftliche Logik und kulturelle wie nationale Unterschiede überwinden. So schufen sie auf einem riesigen Kontinent eine Währungsunion ohne die nötigen Sicherungen."
Griechische Selbstkritik
Und wie sieht man es in Griechenland selbst? Zumindest die Zeitung "Kathimerini" ist vom Gebaren des Duos Tsipras/Varoufakis alles andere als angetan. Deren Unprofessionalität habe sich bis zuletzt, bis zur Verkündung des Referendums, gezeigt. "Man hätte zumindest erwartet, dass die Last dieser Entscheidung die Ansprache von Tsipras etwas tiefer und bedachter hätte werden lassen. Man hätte gehofft, dass eine Entscheidung, die das Land ernsthaft gegen die Wand laufen lässt, hinreichend begründet wäre. Tsipras hätte seine Entscheidung irgendwie rechtfertigen können." Aber davon, bedauert "Kathimerini", habe man nichts gesehen. "Die Schock-Entscheidung wurde ohne jede Vorbereitung verkündet. Nicht einmal die Ansprache selbst war vorbereitet." Nun, so das Blatt, müssten die Griechen innerhalb einer Woche eine Frage entscheiden, die auch in den folgenden Generationen noch Auswirkungen hätte. "Die Griechen haben kaum Zeit, die Frage zu studieren, geschweige denn zu diskutieren."
Und Europa?
Wie auch immer das Referendum ausgeht, die britische Zeitung "The Guardian" befürchtet Folgen, die über Griechenland hinausreichen. "Die Auswirkungen eines griechischen Zusammenbruchs werden für das übrige Europa tiefe politische und ökonomische Auswirkungen haben. Es wird zu gegenseitigen Schuldzuweisungen für eine fünf Jahre dauernde Austeritätspolitik und Rettungskäufen kommen, die zumindest im Fall Griechenlands gescheitert sind."
Ob man von einem geeinten Europa künftig noch wird reden können? Die portugiesische Zeitung "O Público" ist besorgt. Denn die jüngste Entscheidung weise weit über sich selbst hinaus. "Tag für Tag sehen wir aus den unterschiedlichsten Anlässen den Beweis, dass das Auseinanderbrechen - und mit ihm das Ende des europäischen Projekts - nicht auszuschließen ist." Auch die Griechenlandkrise beweise das. "Sie eröffnet einen gefährlichen Präzedenzfall. Aber es gibt viele weitere Gründe, sich zu beunruhigen. Das ist die traurige Wahrheit."