Irak als Warnung für Afghanistan
16. Oktober 2015Im Mai 2014 präsentierte Präsident Obama seinen Fahrplan für den Abzug aus Afghanistan. Sein Plan: Wenn er das Weiße Haus Ende 2016 verlässt, sollen praktisch keine US- Truppen mehr am Hindukusch stationiert sein. Ausnahme sollten tausend verbleibende Sicherheitskräfte in Kabul sein.
Gerade mal zwei Wochen nach Obamas Ankündigungen eskalierte die Situation an einem anderen Schauplatz - im Irak. Der "Islamische Staat" (IS) terrorisierte das Land immer stärker, Washington griff mit Kampfjets in den Konflikt ein, um einen Vormarsch des IS auf Bagdad zu verhindern. Inzwischen stecken die USA im Irak und in Syrien in Luftkriegen fest, deren Ende völlig offen ist - und die vom amerikanischen Kongress obendrein nicht mehr abgesegnet sind.
"Einen Krieg kann man nicht für beendet erklären"
"Klar war es ein Fehler, 2003 in den Irak einzumarschieren", sagt James Dobbins, der als Sondergesandter der US-Streikräfte in Afghanistan und Pakistan tätig war. "Aber wo wir nun schon einmal einmarschiert waren und das ganze Durcheinander angerichtet hatten, hätten wir uns nicht einfach so wieder aus dem Staub machen dürfen", fügt Dobbins hinzu. "Ein Krieg ist nicht zuende, indem man ihn einfach für beendet erklärt."
Dobbins und viele andere haben Sorge, dass sich in Afghanistan das irakische Szenario wiederholen könnte, falls Washington zu früh abzieht. Ende September hatten afghanische Truppen die Stadt Kundus an die Taliban verloren. Zum ersten Mal seit dem US-geführten Einmarsch hatten die Taliban eine Provinzhauptstadt erobert. Erst mit US-Hilfe konnte die Stadt zurückerobert werden. Einer der Luftschläge traf ein Krankenhaus und tötete 22 Zivilisten, 37 wurden verletzt.
"Kundus markiert eine ganz neue Etappe in der Strategie der Taliban", sagt Thomas Johnson, der am Postgraduierten-Kolleg der US-Marine im kalifornischen Monterey arbeitet und Experte für den Afghanistan-Krieg ist. "Bisher hatten sie es vor allem auf Gebietsgewinne auf dem Land abgesehen. Dass sie mit Kundus jetzt eine Provinzhauptstadt angegriffen haben, ist eine ganz neue Dimension."
Der IS in Afghanistan?
Mit genau dieser unsicheren Situation begründete Obama am Donnerstag seine Entscheidung, den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan zu verlangsamen. Rund 10.000 amerikanische Soldaten sollen auch 2016 in Afghanistan bleiben. Wenn Obamas Präsidentschaft im Januar 2017 endet, soll die Zahl auf 5500 reduziert werden. Diese sollen dann das afghanische Militär beraten und Anti-Terror-Missionen anführen. "Das bedeutet eigentlich, dass Obama seinem Nachfolger alle Optionen offenhält. Er oder sie kann die Truppen in Afghanistan halten oder abziehen", sagt Scott Smith, Direktor des Afghanistan- und Zentralasienprogramms am Friedensinstitut der Vereinigten Staaten.
Johnson vermutet, dass das Erstarken des IS die USA zum Umdenken gebracht hat. Der IS rekrutiert derzeit in 25 von 34 afghanischen Provinzen Kämpfer, so ein Bericht der Vereinten Nationen vom September, der afghanische Regierungsquellen zitiert. "Die Dynamik, mit der der IS vorgeht, ist beunruhigend", so Johnson. "Der IS hat bereits jetzt Zentralasien im Blick. Viele Kongressabgeordnete sagen, dass die USA in Afghanistan nicht das gleiche zulassen dürfen wie im Irak".
Mission impossible?
Und doch: Die Zahl der Kampftruppen, die das Weiße Haus in Afghanistan halten will, reiche nicht aus, meint Johnson. Zu viele Soldaten seien mit der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte beschäftigt. "Die werden es jetzt wohl kaum schaffen, den afghanischen Sicherheitsapparat zu verbessern. Immerhin haben wir das 14 Jahre lang versucht, und es gibt noch immer Probleme."
Stattdessen sollten viel mehr US-Truppen für den Anti-Terror-Kampf eingesetzt werden, speziell gegen den IS. Dass die Truppen allerdings aufgestockt würden, hält Johnson angesichts der Kritik am Afghanistan-Einsatz in der amerikanischen Bevölkerung für unwahrscheinlich. "Afghanistan ist ein Krieg, den man nicht gewinnen kann", sagt Johnson resigniert: "Wir haben fast eine Billion Dollar ausgegeben, 2500 Gefallene sind zu beklagen - und das Land ist noch immer nicht geordnet."