Die 0,7-Prozent-Lüge
4. Dezember 2012Seine Politik ist umstritten. Schon Dirk Niebels Amtsantritt misslang in gewisser Hinsicht: Bevor er das deutsche Entwicklungsministerium (BMZ) im Oktober 2009 übernahm, wollte seine Freie Demokratische Partei (FDP) das Ressort eigentlich auflösen und die Aufgaben an anderer Stelle eingliedern. Als der Ministerposten dann an die Liberalen ging, war von Abschaffung keine Rede mehr.
Vergangene Woche zeigte sich Niebel empört über die Kürzungen des Entwicklungshilfeetats für das Jahr 2013. Als die oppositionellen Grünen diese Abstriche am Mittwoch (28.11.2012) wieder rückgängig machen wollten, stimmte er jedoch dagegen - also gegen seine eigene Forderung.
UN-Millenniumsziel unerreichbar?
Niebel will seit ein paar Tagen auch nicht mehr länger so tun, als ob: Der Bundesentwicklungsminister hat das langjährige Versprechen der Regierung, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) für Entwicklungshilfe ausgeben zu wollen, als "Lebenslüge" bezeichnet. In einem Interview mit der "Rheinischen Post" erklärte er, wenn es dafür keine Mehrheit im Bundestag gebe, brauche auch niemand den Schein aufrechtzuerhalten, das Millenniumsziel erfüllen zu wollen. Eine Reihe von Industrieländern haben sich zu Hilfszahlungen in Höhe von 0,7 Prozent des BNE verpflichtet. Die Vereinten Nationen haben sich dieses Ziel im Rahmen der Millenniumskampagne aus dem Jahr 2000 gesetzt. Laut der Vereinbarung muss es in drei Jahren erfüllt sein.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat offiziell immer an den versprochenen 0,7 Prozent festgehalten. Tatsächlich liegen die Ausgaben Deutschlands derzeit bei etwa 0,4 Prozent. Seit Ende der 90er Jahre gab es einen seichten Aufwärtstrend, der mit dem Bundeshaushalt 2013 nun zum Erliegen gekommen ist. Zunächst war im Entwurf für den Haushaltsplan sogar eine Erhöhung des Entwicklungshilfeetats vorgesehen. Die Abgeordneten votierten vergangene Woche bei der Verabschiedung des Haushalts aber dagegen. Mit 6,3 Milliarden Euro kann Niebel nun rechnen, 87 Millionen Euro weniger als 2012.
Der Unterschied zwischen "wollen" und "können"
"Da müsste eigentlich mehr drin sein", sagt Tobias Hauschild, Referent für Entwicklungsfinanzierung bei der Nichtregierungsorganisation Oxfam Deutschland. "Das ist ein Armutszeugnis für Deutschland. Andere Länder wie Schweden oder die Niederlande zeigen seit Jahren, dass es funktioniert." Auch Großbritannien sei auf dem Weg, die 0,7-Prozent-Marke zu verwirklichen.
"Die Frage ist, ob man sich das leisten will, nicht ob man es kann", sagt Peter Wolff, Experte für Entwicklungsfinanzierung beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE). Im Gespräch mit der Deutschen Welle verweist Wolff darauf, dass die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Eurokrise einfach andere Prioritäten gesetzt habe. Allein der Etat des Ministeriums spiegele aber auch nicht die ganzen Bemühungen Deutschlands in der Entwicklungspolitik wieder: Insbesondere Klimaschutzprojekte würden auch mit Geld aus anderen Etats bezahlt. Ein Beispiel dafür sei die Finanzierung der Weltklimakonferenz, die derzeit in Doha stattfindet. Entwicklungsländer würden aber die Zusammenhänge zwischen Klimapolitik und Entwicklungshilfepolitik nicht gerne vermischt sehen, so Wolff. Sie legten Wert darauf, die beiden Aspekte getrennt voneinander zu sehen, in der Hoffnung, dass so insgesamt mehr Mittel in ihre Länder fließen.
Alternativen zur staatlichen Entwicklungshilfe
Wie viel Geld mehr oder weniger schließlich im Entwicklungshilfetopf landet, scheint Minister Niebel im Detail nicht so sehr zu berühren, wie man annehmen könnte. Die Arbeitsfähigkeit seines Ressorts würde durch die Kürzungen nicht eingeschränkt, wird Niebel im Zeitungsinterview zitiert. Ein Grund, dass der Entwicklungsminister relativ sorglos scheint, mag seine große Zuversicht in private Geldgeber sein. Niebel hatte erst in der vergangenen Woche betont, wie wichtig die Zusammenarbeit mit Unternehmen für sein Ministerium sei. Die Zahlen sprechen für seine Haltung. Peter Wolff rechnet vor: "Die staatliche Entwicklungshilfe aus den OECD-Ländern - wenn man sie mal in der Summe nennt - lag im vergangenen Jahr bei etwa 120 Milliarden US-Dollar. Dem stehen Direktinvestitionen der Wirtschaft von 500 bis 600 Milliarden US-Dollar gegenüber." Hinzu kämen zum Beispiel Rücküberweisungen von Auswanderern ins Heimatland sowie der Handel mit Rohstoffen. Länder wie Malaysia oder Tansania hätten sich so in der Vergangenheit erfolgreich von Zuschüssen aus anderen Staaten losgelöst, erklärt Wolff.
Die Privatwirtschaft als Heilmittel? Daran will Oxfam-Mitarbeiter Hauschild nicht so recht glauben: "Damit nimmt man sich selbst aus der Verantwortung", kritisiert er. Unternehmen investierten hauptsächlich aus geschäftlichen Interessen, zum Beispiel in Asien und einigen wenigen Ländern Afrikas. Andere Länder blieben außen vor: "Für Gesundheitsförderung oder Bildung braucht man aber staatliche Entwicklungszusammenarbeit."