Schmelztiegel São Paulo
18. Dezember 2012Kaum ein Land der Welt weist einen so hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund auf wie Brasilien: Beim Zensus 2010 gab nur einer von 230 Brasilianern an, Nachkomme der Ureinwohner zu sein. Zum Vergleich: In den USA traf das im selben Jahr immerhin auf jeden sechzigsten Bürger zu; in Australien gilt einer von 45 Einwohnern als Aborigine.
Ihre Wurzeln haben die Brasilianer in aller Welt. Zwar dominieren europäische und afrikanische Einflüsse. In São Paulo leben aber auch rund eine Million Menschen japanischen Ursprungs. Der drittgrößte Ballungsraum der Welt ist der Schmelztiegel des Landes und seine Besiedlungsgeschichte abwechslungsreich.
Einwanderungsland Brasilien
Rund 300 Jahre lang blieben die Portugiesen in ihrer Kolonie Brasilien weitgehend mit ihren afrikanischen Sklaven und den Ureinwohnern unter sich. Nach der Unabhängigkeit 1822 änderte sich das allmählich. "Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten viele Europäer und Japaner - im Prinzip aber Menschen aus der ganzen Welt - nach Brasilien und speziell nach São Paulo aus", erzählt der Linguist Uli Reich, der an der Freien Universität Berlin untersucht, wie sich Migration auf die Sprache in Großstädten auswirkt. Während der sogenannten "großen Zuwanderung" trafen jedes Jahr zwischen 50.000 und mehr als 200.000 Menschen in Brasilien ein.
Grundstein der Industrie
Die Immigranten suchten Arbeit. Und besonders viel davon gab es auf den Kaffeeplantagen, die ab dem 19. Jahrhundert vor allem in der Hochebene von São Paulo entstanden. Das hier erwirtschaftete Kapital bildete den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt zum größten Industrie- und Finanzstandort Lateinamerikas. Mitte des 20. Jahrhunderts nahm die Industrialisierung in São Paulo Fahrt auf. Und bald siedelten sich auch deutsche Unternehmen wie Bosch, Siemens und Volkswagen an.
Durch die Industrialisierung entstanden viele Arbeitsplätze, und wieder kamen Arbeitskräfte in die Stadt. Diesmal allerdings aus Brasilien selbst. Vor allem aus dem armen Nordosten zogen unzählige Menschen gen Süden. "In den 60er-Jahren kamen ganze Busladungen voll mit Migranten aus dem Nordosten in der Stadt an", erzählt Reich.
Doch auch als sich der Bedarf an Arbeitskräften abschwächte, ging der Zustrom von Arbeitssuchenden weiter. Viele blieben ohne Stelle - und ohne Obdach. Riesige Armenviertel entstanden und legten sich wie ein Ring um das Zentrum der Metropole.
Seit 1890 ist die Einwohnerzahl allein der Kernstadt um annähernd das 200-fache gestiegen, von 65.000 auf über elf Millionen. Zum Vergleich: New York City hatte damals 2,5, heute 8,2 Millionen Einwohner.
Aktuelle Zuwanderung
Heute leben 40 von 100 Brasilianern nicht dort, wo sie geboren wurden. Doch in den vergangenen Jahrzehnten verebbte die Binnenmigration zwischen den Regionen langsam. "Mit der Verbesserung der Wirtschaftslage ließ der Druck nach, aus dem Nordosten abzuwandern", erklärt der Sprachforscher Reich. Tim Wegenast, Politikwissenschaftler an der Uni Konstanz, sieht einen weiteren Grund: "Die Sozialprogramme der letzten fünfzehn Jahre haben ihren Beitrag geleistet, die Migration aus Brasiliens ärmeren Regionen zu bremsen."
Ein völliges Ende der Zuwanderung ist dennoch nicht abzusehen: Nun kommen Menschen aus den umliegenden Ländern nach Brasilien. Rund 50.000 Bolivianer arbeiten allein in den Textilfabriken São Paulos. Sie bilden die am schnellsten wachsende ausländische Gemeinschaft der Stadt. "Brasilien ist ein aufstrebendes Schwellenland, São Paulo ist der wichtigste Industriestandort in Südamerika - und Bolivien ist bettelarm", erklärt Reich.
Auf dem Index für menschliche Entwicklung (HDI) der Vereinten Nationen liegt Bolivien zwar nur 24 Plätze hinter Brasilien, gilt aber als nur "Medium Developed", Brasilien hingegen als "High Developed". Und São Paulo gehört zu den wohlhabendsten der sehr unterschiedlich entwickelten Regionen des riesigen Landes.
Exodus aus São Paulo
Auch unter den wohlhabenderen "Paulistanos" gibt es Migrationsbewegungen. Während sie in den 90er-Jahren zunächst verstärkt in den Speckgürtel der Metropole zogen, haben sie seit der Jahrtausendwende begonnen, den Ballungsraum ganz zu verlassen. Sie gehen in die mittelgroßen Städte des Bundesstaats oder in ländliche Gebiete. "Vor allem gut ausgebildete Großstädter ziehen weg", weiß Brasilienkenner Reich. "Sie halten die chaotischen Zustände in São Paulo einfach nicht mehr aus. Zudem ist das Zentrum so teuer geworden, dass sich nur noch wenige Menschen leisten können, dort zu leben."
Der Brasilienexperte Wegenast sieht zwei Strömungen in dieser Entwicklung, die sich gegenseitig bedingen: "Zum einen nutzen die Unternehmen die Steuervorteile, die ihnen viele kleinere Städte bieten. So hat sich eine gute Infrastruktur mit Zulieferern und Partnern entwickelt. Entsprechend gut sind auch die Jobangebote dort." Zum anderen sei die Lebensqualität dort oft höher: "Die Lebenshaltungskosten sind niedriger, es gibt weniger Kriminalität, die Luft ist besser und im Verkehr kommt man schneller voran".