Physik-Nobelpreis für "Geisterteilchen"-Forschung
6. Oktober 2015Sie kommen aus dem Weltraum. Tausende Milliarden von ihnen prallen jede Sekunde auf unseren Körper ein. Aber keine Sorge - die Winzlinge sind nicht gefährlich. Es handelt sich um Neutrinos, harmlose Elementarteilchen, die fast nie mit irgendetwas anderem interagieren.
Daher haben sie auch ihren Spitznamen "Geisterteilchen". Er veranschaulicht das Problem, mit dem Physiker in der Neutrinoforschung zu kämpfen haben: Wie soll man etwas untersuchen, das praktisch unsichtbar ist, und zwar nicht nur für das Auge, sondern auch für alle anderen Instrumente?
Takaaki Kajita von der Universität Tokio in Japan und Arthur B. McDonald von der Queen's University in Kingston in Kanada nahmen die Herausforderung an - und wurden belohnt. Am Dienstag erhielten sie den Physiknobelpreis, weil sie herausfanden, dass Neutrinos oszillieren, also ihren Zustand verändern können. Das bedeutet auch, dass die Teilchen eine Masse haben. Lange Zeit waren Forscher vom Gegenteil ausgegangen.
Damit sind die beiden Preisträger der Natur des Neutrinos "einen fundamentalen Schritt näher gekommen", sagte Olga Botner, Mitglied des Nobelpreiskomitees, bei der Verkündung der Gewinner in Stockholm. Schon drei Mal, in den Jahren 1988, 1995 und 2002, wurden Neutrinoforscher mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet.
Begeisterte Reaktionen
Experten auf der ganzen Welt freuen sich mit den beiden Preisträgern. "Ich finde es sehr schön, dass es unser Feld getroffen hat", sagte Björn Wonsak von der Forschungsgruppe Neutrinophysik an der Universität Hamburg im DW-Interview. "Es kann etwas mehr Öffentlichkeit vertragen."
Am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) "tanzen wir alle in 50 Zentimeter Höhe", sagte Johannes Blümer vom KIT-Centrum für Elementarteilchen- und Astroteilchenphysik (KCETA). "Am KIT sind beide Laureaten gut bekannt. Es sind sehr nette Leute."
Bereits 2013 verlieh das KCETA Takaaki Kajita den Julius-Wess-Physikpreis für seine Neutrinoforschung. "Es ist als hätten wir es geahnt", sagte Blümer der DW mit einem Lachen.
Antonio Ereditato von der Universität Bern hat mit beiden Preisträgern zusammengearbeitet, am engsten jedoch mit Kajita. "Er ist ein guter Freund und ein sehr netter Mensch", sagte Ereditato. "Ich bin sehr froh, dass er den Nobelpreis gewonnen hat, das ist eine wohlverdiente Auszeichnung."
Kajita selbst sagte dem Nobelpreiskomitee im Anschluss an die Bekanntgabe, dass es für ihn "irgendwie noch unglaublich" sei. Arthur McDonald ließ wissen, dass er als erstes seine Frau umarmt habe, als er die gute Nachricht erhielt.
Neutrinos von der Sonne
Neutrinos sind so leicht, dass Wissenschaftler lange dachten, sie hätten gar keine Masse - so wie Photonen, aus denen Licht besteht.
Nach Jahren der Forschung konnten riesige unterirdische Anlagen immerhin beweisen, dass Neutrinos tatsächlich existieren. Das ist nur unter der Erde möglich, weil überall sonst Strahlung aus dem Weltraum die Messungen stört. Deshalb sind beispielsweise unterirdische Minen perfekt für die Neutrinoforschung. "Es soll ja Verrückte geben, mich natürlich eingeschlossen, die in Minen heruntergehen, um die Sterne zu erforschen", sagte Arthur McDonald 2010 in einem Vortrag an der University of California in Berkeley.
Die Geisterteilchen entstehen auch in unserer Sonne. Aber als Forscher untersuchten, wie viele genau, stießen sie auf Schwierigkeiten. Die Zahl von Neutrinos, die nach ihren Berechnungen in der Sonne entstehen sollte und damit auch die Erde erreichen sollte, stimmte nicht mit den Ergebnissen überein, die tatsächlich gemessen wurden. Nur 30 bis 50 Prozent der berechneten Menge ließen sich auch nachweisen.
"Es gab Debatten zwischen den Astrophysikern und den Elementarteilchenphysikern, wer einen Fehler gemacht hatte", erzählte Blümer. "Verstehen wir die Prozesse während der Kernfusion vielleicht nicht richtig? Stimmte unsere Idee von der Energie der Sonne nicht?" 1998 konnte Takaaki Kajita das Rätsel schließlich lösen. Als er die Lösung das erste Mal auf einer wissenschaftlichen Konferenz vorstellte "gab es Standing Ovations", sagte Blümer.
Des Rätsels Lösung
Es gibt drei Arten von Neutrinos. Normale Neutrinodetektoren können aber nicht alle gleichzeitig aufzeichnen.
Kajita hatte eine Idee: Die Sonne produziert nur eine Art von Neutrino. Was, wenn sich die Partikel auf dem Weg zur Erde umwandeln, in eine Art, die die Detektoren nicht messen können? Das würde den Unterschied zwischen Berechnung und Wirklichkeit erklären, der die Forscher seit Jahren beschäftigte.
Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, entwickelte Kajita den Superkamiokande-Detektor, der zwei Arten von Neutrinos messen konnte. Und er hatte mit seiner Vermutung recht: Neutrinos verändern sich - sie oszillieren.
Arthur McDonald experimentierte später mit einem Detektor, der alle drei Arten von Neutrinos wahrnehmen konnte. So wurden 100 Prozent der Geisterteilchen, die die Sonne verließen, auch auf der Erde gemessen.
Und wofür das Ganze?
Neutrinoforschung ist typische Grundlagenforschung. Sie versucht, die Welt um uns herum besser zu verstehen - erst viel später ergibt sich daraus vielleicht mal ein Nutzen - oder auch nicht.
Trotzdem zögerte Arthur McDonald nicht, als eine Journalistin ihn nach der Nobelpreisbekanntgabe fragte, was denn der praktische Nutzen dieser Entdeckung sei.
Die Neutrinoforschung habe geholfen, "die Vorgänge im Kern der Sonne zu verstehen", sagte McDonald. Diese ähnelten den Vorgängen, die auch im Inneren eines Kernfusionsreaktors ablaufen werden, den man versucht zu bauen.
Noch mehr Geheimnisse
Wenn Neutrinos ihren Zustand ändern können, dann müssen diese verschiedenen Arten von Neutrinos unterschiedliche Massen haben. Und das eben bedeutet, dass die Masse nicht Null sein kann - wie lange Zeit angenommen. Das ist die wichtigste Schlussfolgerung aus der Entdeckung der Nobelpreisträger.
"Wir wissen jetzt, Neutrinos haben eine Masse - aber welche genau?" sagt Björn Wonsak von der Universität Hamburg. Das ist das nächste Rätsel, das Neutrinoforscher versuchen zu lösen. Wer auch immer die genaue Masse des Neutrinos bestimmt, bekommt wohl den nächsten Physiknobelpreis - und damit den fünften in der Neutrinoreihe.