Schweigeminute an der Sorbonne
16. November 2015Absperrgitter und ein großes Polizeiaufgebot vor dem historischen Universitätsgebäude trennten den französischen Präsidenten und die Studenten voneinander. In Paris verläuft dieser Tage kein öffentliches Ereignis ohne massive Sicherheitsmaßnahmen. François Hollande verbringt die Schweigeminute am Mittag im Inneren, draußen stehen die Studenten. Nach kurzem Innehalten beginnen sie um 12 Uhr rhythmisch zu klatschen und stimmen dann beinah trotzig die Marseilleise an, die französische Nationalhymne mit ihrem revolutionären Text voller blutiger Szenen.
Mit seinem Besuch in der Sorbonne will François Hollande ein Zeichen setzen, denn die Universität stehe für Paris, für Frankreich, für die Jugend und das Wissen, so ließ er erklären. Und damit hat der Präsident die Stimmung auf dem Platz erstaunlich gut getroffen: "Die Anschläge waren gegen die französische Jugend gerichtet, deshalb bin ich so schockiert", sagt Thien. Er ist vietnamesischer Herkunft, studiert am Institut für Arabistik und fürchtet, dass es politische Spaltungen im Land und auch unter den Studenten geben wird. "Diese Attentate haben uns tief getroffen, es gab ja auch Opfer unter uns Studenten", fügt er hinzu. Der Terror habe sich gegen ihre Gemeinschaft gerichtet. Und gerade die Sorbonne sei doch der Ort, wo alle Kulturen mit ihrem Reichtum zusammenkämen, mit ihren Fachgebieten und ihrem Wissen.
Lebendig zusammenstehen
Flore studiert Kommunikationswissenschaften und ist noch immer bewegt von heftigen Gefühlen. Die Tränen steigen ihr in die Augen, als sie sagt, dass sie gekommen ist, um mit ihren Kommilitonen gemeinsam zu trauern. Die Regierung sage ja, man solle sich nicht öffentlich versammeln, aber ihr war es trotzdem wichtig: "Wir wollen zeigen, dass wir zusammenstehen, aber auch lebendig sind und stark."
Ihr Kommilitone Paul sieht die Ereignisse politisch: "Diese Bombardements in Syrien jetzt, als Antwort auf den 'Islamischen Staat', das ist doch völlig falsch. Davon wird der Hass doch nur noch tiefer. Und für jeden toten IS-Kämpfer sterben neun Zivilisten." Er glaubt, dass Frankreich im Nahen Osten einen Politikwechsel brauche und dass schon der Einsatz in Libyen ein großer Fehler war. Sein Freund Alexandre findet, dass ein Wechsel der Mentalität nötig sei: "Noch mehr Hass zu schüren, wird uns nicht weiter bringen, wir brauchen eine ganz neue Diplomatie. Der Terrorismus ist doch auch eine Folge unseres Handelns."
Loubna trägt als einzige ein weißes Kopftuch und sticht damit heraus - selbst aus der Menge der Studenten zahlreicher Ethnien, Hautfarben und Haartrachten: "Ich bin weiter optimistisch, ich glaube dass der Zusammenhalt in Frankreich gut ist. Natürlich gibt es die Gefahr, dass Rechtsradikale jetzt stärker werden, aber ich denke, dass die Franzosen dagegen sind, Minderheiten zu stigmatisieren."
Neben Loubna denkt Samantha in eher historischen Dimensionen: "Das ist wirklich ein Wendepunkt für uns alle!" Aber sie weiß noch nicht so richtig, wohin der Weg führen soll. Sie erwartet jedenfalls von der Regierung drastische Sicherheitsmaßnahmen einerseits und will andererseits auch keinen Polizeistaat. Und natürlich könne man nicht ständig in Angst leben: "Man darf doch im Alltag nicht paranoid werden und ständig nur daran denken, dass etwas passieren könnte. Wir müssen doch unser Leben weiter führen." Wie zum Beweis sitzen am Rande des Platzes ein paar Studenten mit ihren Statistiklehrbüchern und vergleichen konzentriert ihre Notizen.
Frankreichs Gesellschaft in der Pflicht
Die Studenten an der Sorbonne sind sich in vielem einig. Das Gefühl des Zusammenhalts an der Universität und der Sinn für Gleichheit und Brüderlichkeit, diese großen französischen Ideale, scheinen stark. Und sie verstehen auch, dass die Attentate von Paris ihr Leben verändert haben, selbst wenn die meisten noch nicht genau wissen wie. Viele nötige Veränderungen könnten zu lange dauern: eine andere Politik im Nahen Osten, die Fehler bei der Integration der Muslime aus Nordafrika berichtigen, die wirtschaftliche Benachteiligung von Minderheiten beenden.
Die Art von hasserfüllter Radikalität, wie sie die Selbstmordattentäter vom vergangenen Freitag gezeigt haben, bleibt letztlich außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Und für ein paar Minuten halten sie sich an ihren nationalen Symbolen fest: Sie singen voller Überzeugung die Marseilleise und am Ende ruft einer: "Vive la France!"