Prüfungen abgesagt, Abi in der Tasche
15. Juli 2020Auf ihre Schulzeit während der Corona-Beschränkungen angesprochen, können Juliette Luy und Nuno Azevedo Rua nur breit grinsen. Die beiden sind Abiturienten der Athénée-Royal-Schule in der belgischen Gemeinde Jodoigne. In den vergangenen Monaten fand ihr Unterricht ausschließlich online zu Hause statt.
"Ich habe mit meinem Zwillingsbruder einmal eine Tortilla gebacken. Wir sollten das für den Spanischunterricht für den Rest der Klasse filmen", erzählt Nuno. Viel mehr gab es für das Fach dann auch nicht zu tun. Belgien schloss wegen des Coronavirus am 16. März nicht nur die Schulen, sondern sagte auch gleich alle Prüfungen ab - die Absolventen haben dieses Jahr ihren Abschluss geschenkt bekommen.
Ende Juni erfuhren Juliette und Nuno über einen Post in der Facebook-Gruppe ihrer Schule, dass ihre Abschlussnoten nun online waren. Da ihr Abitur auf den Leistungen des vergangenen Jahres basiert, mussten sie keinen Finger mehr rühren. Ein Brief der Schule, der zwei Wochen später im Briefkasten lag, bestätigte ihren Abschluss mit einem lapidaren Kreuz an der richtigen Stelle: "Bestanden".
Belgiens Schulen blieben sowohl im französischsprachigen Wallonien, in dem Jodoigne liegt, als auch in den niederländisch- und deutschsprachigen Landesteilen während der Pandemie für zwei Monate geschlossen. Insgesamt ist Belgien mit bisher knapp 63.000 bestätigten Infektionen und über 9.700 Todesfällen stärker betroffen als etwa Deutschland, wo die Todesrate in Relation zur Einwohnerzahl deutlich niedriger liegt. Auch in den benachbarten Niederlanden - in denen im Gegensatz zu Belgien keine Ausgangsbeschränkungen galten - sind weniger Menschen an COVID-19 gestorben.
"Schule gibt mir das Gefühl, ein Leben zu haben"
Am 18. Mai öffneten zunächst belgische Schulen für Grundschüler der 6. Klassen teilweise wieder. Im Juni kehrten Kindergärten, Vorschulen und die übrigen Grundschulklassen wieder zum Normalbetrieb zurück.
Schüler der höheren Stufen konnten in Jodoigne, rund 50 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Brüssel, seitdem an zwei Tagen der Woche freiwillig wieder in die Schule kommen. Zwei Drittel der Schüler blieben aus Angst vor Infektionen aber weiterhin zuhause, erzählt Juliette über ihre Klasse. Sie selbst gehörte nicht zu den Ängstlichen: "Ich hatte wirklich keinen Grund, nicht hinzugehen. Es hat mir das Gefühl gegeben, ein Leben zu haben", lacht die 18-Jährige.
Das Lernen während des Lockdowns war jedoch nicht nur in den drei belgischen Landesteilen, sondern vor allem von Schule zu Schule sehr unterschiedlich. "Es gab keine einheitliche Vorgehensweise", meint Rachel, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. Sie ist Grundschullehrerin an einer Europäischen Schule in Brüssel, die hauptsächlich Kinder der hier ansässigen EU-Beamten besuchen.
Tortillas backen - oder 14 Stunden Hausaufgaben
Während Juliette und Nuno aus der französischsprachigen Gemeinde Jodoigne maximal zwei Stunden pro Woche Hausaufgaben erledigt haben - darunter das Tortilla-Backen -, erlebten Rachels eigene Kinder im Teenageralter das Gegenteil. Sie sind, wie ihre Mutter, an einer Europäischen Schule und waren bis zu 14 Stunden am Tag beschäftigt. Die Wochenenden kamen noch hinzu.
Auch für Rachel selbst türmte sich die Arbeit nun nicht mehr physisch auf ihrem Schreibtisch, sondern online. "Es war ein enormer Arbeitsaufwand, ich brauchte Stunden für die Planung der Online-Aufgaben. Dann musste ich auch noch die handschriftlichen Antworten der Kinder am Computer lesen", so die 54-Jährige.
Gleichzeitig wurden für die Abiturienten Juliette und Nuno Mitteilungen der Schule in ihren E-Mail-Postfächern immer seltener. "Von den meisten Lehrern bekamen wir keine Aufgaben geschickt, Matheaufgaben waren da noch die häufigsten", erzählt Juliette.
Die vermehrte Freizeit verbachte sie damit, Filme auf Netflix zu streamen und jeden Tag etwas später zu beginnen. "Nach 12 Uhr mittags aufzustehen, ist für mich normal geworden", sagt die Abiturientin. Nuno hingegen fing an, gegen die Langeweile Sport zu treiben. "Ich habe seit Beginn des Lockdowns fünf Kilo abgenommen", berichtet der 18-Jährige.
Studieren ohne Numerus clausus
Macht es Juliette und Nuno nichts aus, dass sie keine Abschlussprüfung abgelegt haben und auf ihrem Zeugnis nur "bestanden" steht? Die beiden sehen sich verwirrt an. Denn während in vielen Ländern die Abiturnoten darüber entscheiden, welches Fach die Schüler studieren können, ist der Zugang zur Universität in Belgien notenunabhängig.
Juliette möchte an einer Hochschule in Brüssel Öffentlichkeitsarbeit studieren. Nuno zieht es in die wallonische Provinz nach Louvain-la-Neuve, wo er sich für Englisch und Spanisch einschreiben möchte.
"Die letzten Prüfungen sind keine Abiturprüfungen im klassischen Sinne, sondern normale Klausuren, die man jedes Jahr schreibt", erklärt Lies Feron, Sprecherin der Freien Universität Brüssel (VUB). Belgische Schüler bekommen bei Schulabschluss zusammen mit ihrem benoteten Zeugnis ein Zertifikat, mit dem sie die Uni besuchen dürfen. Hierfür ist nur entscheidend, ob sie alles bestanden und nicht, wie gut sie abgeschnitten haben. "Deswegen war der Abschluss dieses Jahr auch so leicht aus den vorherigen Noten zu ermitteln", sagt Feron.
Erstsemester orientieren sich online
Die nötigen Online-Angebote für dieses Jahr aufzubauen, sei für die Brüsseler Universitäten eine große Umstellung gewesen. Auf persönliche Beratungsmöglichkeiten und Informationsveranstaltungen mussten die Schulabsolventen dieses Jahr verzichten. Die angehenden Studenten werden sich deshalb verstärkt während des Studiums orientieren müssen. Online einschreiben kann sich jeder, der sein letztes Schuljahr bestanden hat.
Manchen belgischen Schülern gelang das dieses Jahr eben im Garten liegend - wie Juliette und Nuno. Anderen wurde mehr Einsatz im Online-Unterricht abverlangt. Über eins scheinen sich aber alle einig zu sein: Reguläre Prüfungen hätten sie überfordert und an den Zukunftsplänen der diesjährigen Absolventen sowieso nichts geändert.