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Kiews enttäuschte Erwartungen

Roman Goncharenko | Ganna Biednova | Mykola Berdnyk
11. Juli 2021

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reist zu Angela Merkel nach Berlin. Vor ihrem wohl letzten persönlichen Treffen zeigt sich die Ukraine frustriert und hofft auf einen Neuanfang nach Merkels Abgang.

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Selenskyj bei Merkel in Berlin, Juni 2019
Selenskyj bei Merkel in Berlin, Juni 2019Bild: Reuters/H. Hanschke

Angela Merkel steht ein besonderer Abschied bevor. Die aus dem Amt scheidende Bundeskanzlerin empfängt am Montag in Berlin den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Es dürfte ihr letztes persönliches Treffen sein. Zwar hat er Merkel mehrmals eingeladen, zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit Ende August nach Kiew zu kommen. Auch auf der Gründungskonferenz einer internationalen Plattform zur Krim würde Selenskyj die Kanzlerin gerne sehen. Doch eine Zusage kam bisher weder für die eine noch für die andere Veranstaltung.

Seit der russischen Annexion der Halbinsel ist die Ukraine für die Bundeskanzlerin ein Land, mit dem sie sich als führende westliche Politikerin intensiv beschäftigt. Doch die Stimmung vor dem Treffen in Berlin ist getrübt wie lange nicht mehr.

Diplomatische Verstimmung zwischen Berlin und Kiew

Unter die wiederholten Dankbarkeitsbekundungen mischt sich auf ukrainischer Seite immer offener zur Schau gestellter Frust. So sorgte der jüngste Vorstoß Merkels und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, erneut einen EU-Russland-Gipfel abhalten zu wollen, in Kiew für Irritationen. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba lud die Botschafter beider Länder zu einem Gespräch ein. Er sprach von einem "unangenehmen und überraschenden Angriff" und zeigte sich zufrieden darüber, dass Merkels Idee beim EU-Gipfel "abgewehrt" wurde.

Ukrainischer Außenminister Dmytro Kuleba
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba Bild: picture-alliance/dpa/V. Ogirenko

Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, boykottierte Ende Juni eine Gedenkveranstaltung mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion. Er fand den Ort, das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst, "unangemessen". Wenige Monate zuvor kritisierte Melnyk Steinmeier scharf, als dieser sich für die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 eingesetzt hatte.

Durchbruch beim Streit um Nord Stream 2?

Nord Stream 2 bleibt der größte Streitpunkt in den Beziehungen zwischen Kiew und Berlin. Die Ukraine lehnt das Ostsee-Projekt ab, weil sie dadurch Transitgebühren für russisches Gas verlieren könnte und sich vor einer militärischen Eskalation seitens Russlands fürchtet. Nachdem sich die USA unter dem neuen Präsidenten Joe Biden gegen weitere Sanktionen entschieden haben, scheint die Fertigstellung der Pipeline nur noch eine Frage von wenigen Monaten.

Bau der Gaspipeline Nord Stream 2, Archiv
Der Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 steht kurz vor dem AbschlussBild: Bernd Wuestneck/dpa/picture alliance

Merkel und Selenskyj dürften in Berlin darüber sprechen, wie die Ukraine gegen mögliche Nachteile abgesichert werden könnte. Medien spekulierten über Kompensationen, doch konkrete Details sind unbekannt. Wenn Merkel und Selenskyj in den kommenden Tagen kurz nacheinander nach Washington reisen, dürfte auch Nord Stream 2 auf der Agenda stehen. Eine Einigung wäre ein Durchbruch im jahrelangen Streit.

Nächster Normandie-Gipfel wohl ohne Merkel

Beim Thema Ostukraine scheint ein Durchbruch dagegen weit entfernt. Seit dem letzten Vierer-Gipfel im Normandie-Format in Paris im Dezember 2019 ist die Lage festgefahren. Ein Nachfolgetreffen in Berlin lässt auf sich warten, die Kämpfe an der Front in der Ostukraine eskalierten zuletzt im Frühling, Dutzende ukrainische Soldaten starben. Als Russland massive Truppenverbände an die ukrainische Grenze verlegte, riefen Merkel und Macron zur Deeskalation auf. Moskau zog die Truppen teilweise ab. 

Der Gipfel im Normandie-Format, Dezember 2019
Im Dezember 2019 trafen sich Selenskyj, Putin, Merkel und Macron zum letzten Gipfel im Normandie-FormatBild: Reuters/T. Camus

Während sich Selenskyj um eine stärkere Rolle der USA bei Friedensgesprächen bemüht, scheint Russlands Präsident an weiteren Treffen mit dem Ukrainer nicht interessiert - zumindest derzeit. Zuletzt sprachen Wladimir Putin und Selenskyj per Videokonferenz getrennt mit Merkel und Macron. "Warum sich mit Selenskyj treffen, wenn er sein Land von außen verwalten lässt?" sagte der Kremlchef während seiner Bürgerfragerunde Ende Juni. "Die Schlüsselfragen zur Ukraine werden nicht in Kiew, sondern in Washington, teilweise in Berlin und Paris entschieden." Putin schloss ein Treffen mit Selenskyj nicht grundsätzlich aus. Einen Normandie-Gipfel mit Kanzlerin Merkel dürfte es aber nicht mehr geben.

Keine engen persönlichen Beziehungen

Auf persönlicher Ebene sei das Verhältnis zwischen Merkel und Selenskyj nicht so gut wie mit seinem Vorgänger Petro Poroschenko, stellen Experten fest. So habe die Bundeskanzlerin vor der Präsidentenwahl in der Ukraine dem damaligen Kandidaten Selenskyj ein Treffen verweigert, während Macron ihn empfing, erinnert Gustav Gressel von der Brüsseler Denkfabrik "European Council on Foreign Relations" (ECFR). "Es lag ein Schatten über den persönlichen Beziehungen der beiden. Das spielt bei Merkel eine nicht unerhebliche Rolle", meint Gressel. "Mit Selenskyj hat es nicht so geklappt, er scheint nicht ganz ihr Typ zu sein." Auch die Kiewer Außenpolitik-Expertin Olena Hetmantschuk bestätigt, dass das Verhältnis "nicht das beste" sei. Selenskyj sei für Merkel "kein komfortabler Partner".  

Es ist unklar, ob auch Selenskyjs kritische Äußerungen dabei eine Rolle gespielt haben. In seinem publik gewordenen Telefonat mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Juli 2019 warf Selenskyj Merkel und Macron vor, nicht genug für die Ukraine zu tun. Diese Botschaft wiederholt er nun immer öfter, etwa in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Anfang Juni. Grundsätzlich sei die Ukraine Deutschland sehr dankbar, doch er habe "mehr erwartet".

Selenskyj beim Truppenbesuch in der Ostukraine, April 2021
Selenskyj bei einem Truppenbesuch in der Ostukraine, April 2021Bild: Ukrainian Presidential Press Service/REUTERS

Vor allem Berlins Absage an Waffenlieferungen sorgt auf der ukrainischen Seite für Enttäuschung. Nachdem der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck sich positiv dazu geäußert hatte, wiederholte die Bundesregierung ihre Ablehnung. Kiew sei etwa an Patrouillenbooten, aber auch an Gewehren und gepanzerten Fahrzeugen interessiert, sagte Selenskyj der FAZ. 

Kiew hofft auf Neuanfang nach Bundestagswahl

Es wird immer deutlicher, dass sich Kiew auf die Zeit nach Angela Merkel vorbereitet. Von ihrem Nachfolger oder Nachfolgerin erhofft man sich in einigen Fragen eine Änderung der deutschen Haltung. Die Ukraine habe genug geleistet, um "klare Bekenntnisse" zu der von ihr angestrebten Mitgliedschaft in der EU und NATO zu bekommen, sagte Selenkyj. "Es gibt eine Erwartung, dass Merkel eine EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine unterstützen könnte, als eine Art Abschiedsgeschenk", sagt Olena Hetmantschuk. 

Ob sich die Bundeskanzlerin darauf einlässt, ist unklar. Eher dürfte Kiew weiter mit Zurückhaltung Berlins rechnen. Die Spitzenkandidaten der Union, der Grünen und der SPD haben zwar Verständnis für die ukrainischen Wünsche geäußert, Hoffnungen auf schnelle Änderungen jedoch gedämpft.

Mykola Berdnyk Leiter des DW-Büros in der Ukraine