Ehemaliger Flüchtling will in den Bundestag
27. August 2021Berichte über verzweifelte Menschen, die in panischer Angst vor den islamistischen Taliban fliehen wollen, und dabei ihr Leben riskieren, beherrschen die Nachrichten. Die afghanische Tragödie und ihre grausamen Folgen für die dortige Bevölkerung wühlen Shoan Vaisi auf. Sie wecken Erinnerungen an eigene dunkle Zeiten. "Das kenne ich aus meiner Geschichte. Wenn man vor dem Tod fliehen muss. Wenn man so verzweifelt ist, dass man um jeden Preis versucht, zu fliehen", sagt Vaisi im Gespräch mit der DW.
Fünf Monate auf der Flucht
Vaisi weiß, was es bedeutet, im eigenen Land nicht mehr sicher zu sein. 2011 musste er aus dem Iran fliehen. Sein Vergehen: Als Mitglied einer linken Organisation hatte er Demonstrationen und Lesungen verbotener Bücher organisiert, sich für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern eingesetzt und über die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerungsminderheit informiert. Damit zog sich Vaisi, der selbst Kurde ist, den Zorn des Mullah-Regimes zu. Ihm drohten Haft und Folter, mindestens. Vaisi blieb nur die Flucht aus seiner Heimatstadt Sanandadsch, nahe der iranisch-irakischen Grenze. Fünf Monate lang kämpfte er sich durch. Über die Türkei und Griechenland nach Deutschland.
Hier fand er Sicherheit, wirklich "angekommen" war der Emigrant aber noch lange nicht. Er konnte kein Deutsch, sein iranisches Abitur galt hierzulande nur als Hauptschulzeugnis, ein Arbeitsplatz lag in weiter Ferne. Vaisi musste von ganz vorne anfangen. Er belegte Abendkurse, büffelte für deutsche Abschlüsse und suchte sich Arbeit.
Angekommen in Essen
Als ehemaliger Profi-Ringer, der es bis ins iranische Nationalteam geschafft hatte, brachte er genügend Ausdauer und Disziplin mit, um alle Hindernisse im Integrations-Parcours zu bewältigen. Heute - zehn Jahre später - sieht er sich "als angekommen" an. In der nordrhein-westfälischen Ruhrgebietsstadt Essen sei er heimisch geworden. "Ich fühle mich komplett als Essener", sagt Vaisi lachend im flüssigem Deutsch.
Derzeit studiert er Soziale Arbeit, arbeitet als Sozialbetreuer, Übersetzer und Dolmetscher für kurdisch und persische Sprachen. Seit 2017 besitzt er die deutsche Staatsbürgerschaft. Privat läuft es ebenfalls bestens: Mit seiner Ehefrau, die er in Deutschland kennenlernte, hat er eine Tochter. Für den örtlichen Ringerverein kämpft er in der Zweiten Bundesliga. Vaisi gilt für viele als Musterbeispiel einer gelungenen Integration.
Nun hat er sein nächstes Ziel anvisiert: Für die nordrhein-westfälischen Linken will er in den Bundestag. Sollten die Linken bei der Bundestagswahl am 26. September ein ähnliches Ergebnis wie vor vier Jahren erzielen, als sie 9,2 Prozent der Zweitstimmen holten, hätte Vaisi gute Chancen auf einen Sitz im Parlament. Er wäre der erste ehemalige politische Verfolgte in der wichtigsten deutschen Volksvertretung. "Im Jahr 2021 ist es für eine vielfältige Gesellschaft notwendiger denn je, dass Menschen aus unterprivilegierten Gruppen im Bundestag vertreten sind", betont Vaisi. Leicht wird das nicht, denn nach jüngsten Umfragen hat seine Partei an Zuspruch eingebüßt. Derzeit stellt "Die Linke" nach den Grünen die zweitkleinste Fraktion im Bundestag.
Hass und Hetze von Rechtsextremen
Vaisi entschied sich für den Bundestag zu kandidieren, kurz nachdem Tareq Alaows seine Kandidatur zurückgezogen hatte. Der vor sechs Jahren aus Syrien geflüchtete Jurist Alaows wollte für die Grünen ins Parlament. Im März zog der 32-Jährige seine Bewerbung zurück, weil er rassistisch angefeindet wurde. "Das hatte mich schockiert. Meine Kandidatur ist eine Antwort auf seinen Rückzug", sagt Vaisi, der mit Alaows später darüber sprechen konnte. Wenn sich Geflüchtete oder Menschen mit Migrationserfahrung politisch und sozial einsetzten, sei mit Anfeindungen zu rechnen, aber mit diesem Hass habe Alaows nicht gerechnet, so Vaisi.
Umso mehr hätten ihn die Reaktionen von Politik und Zivilgesellschaft entsetzt. "Ich habe mir mehr Empörung gewünscht. Das kann doch nicht sein! Im Jahr 2021 wird ein Geflüchteter in Deutschland bedroht und aus dem politischen Leben zurückgedrängt. Ich habe den Eindruck, dass man das hingenommen hat, Ja, es gab ein paar Tweets des Bedauerns, dass es traurig sei. Aber was ist das schon? Ich hätte mir mehr Diskussion, mehr Unterstützung für ihn und für Menschen gewünscht, die diese Erfahrung gemacht haben oder in Erwägung ziehen, in die Politik zu gehen."
Vaisi will sich jedenfalls von Hass nicht einschüchtern lassen. Diesen Gefallen wolle er den Hetzern nicht tun. Menschenverachtende Kommentare in den sozialen Netzwerken erlebe er seit seiner Kandidatur. Mittlerweile aber könne er so damit umgehen, dass ihm das keine Kraft nehme.
Kampf gegen die Armut
Als Politiker will er Armut und Ungleichheit bekämpfen und Kindern und Jugendlichen, auch denjenigen, die eine Migrationsgeschichte haben, bessere Perspektiven verschaffen. In einem Land, das von außen so reich aussieht. "Wir sind in Deutschland auf einem guten Weg. Aber eine Gesellschaft, in der niemand in Armut lebt, in der niemand diskriminiert wird – davon sind wir weit meilenweit entfernt", sagt Vaisi.
Vor allem die Corona-Pandemie hat, die seiner Ansicht nach bestehende soziale Schieflage verstärkt: "In Deutschland gibt es Menschen, die während der Krise reicher geworden sind. Die Zahl der Millionäre und Milliardäre ist gestiegen. In einer Zeit, in der sehr viele Menschen um ihre Arbeitsplätze bangen müssen oder entlassen werden." Wie seine Partei plädiert er für eine Vermögensabgabe der Reichen, um die Lasten der Krise finanziell abzufedern.
Ein weiteres wichtiges Anliegen ist ihm eine humanere Migrationspolitik. Er sei schon immer ein politischer Mensch gewesen. Früher habe er sich mit inner-iranischen Problemen befasst. "Aber auf meiner Flucht kamen andere Punkte hinzu: die weltweite Ungleichheit, die dazu führt, dass Menschen fliehen, der Umgang mit ihnen, aber auch das Ankommen in Deutschland, die Integration und die Diskussion darüber – das waren die ursprünglichen Gründe, warum ich in Deutschland wieder angefangen habe, mich politisch zu engagieren."
Politischer Ratschlag eines Ringers
Dabei bekommt Vaisi auch reichlich Unterstützung. Viele Menschen, darunter auch CDU- oder FDP-Wähler schrieben ihm, weiterzumachen, stark zu bleiben. "Außerdem schreiben mir Menschen, die wie ich als Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind, dass sie wegen mir in die Politik gehen wollen. Ein Teil, von dem ich, was ich erzielen wollte, ist damit erreicht. Meine Kandidatur hat etwas ins Rollen gebracht."
Und sollte es mit der Kandidatur für den Bundestag doch nicht funktionieren – was dann? "Dann heißt es aufstehen, weitermachen, nicht aufgeben", antwortet der frühere Profi-Ringer. Von seinem Sport habe er gelernt, immer in der Hoffnung auf Siege, auf bessere Zeiten weiter zu trainieren. "In der Politik hilft mir das insofern, als dass ich an unsere Gesellschaft glaube und dafür kämpfe, dass Ideale wahr werden."