Nahkampf in Hongkong
19. November 2019Am vergangenen Wochenende hat sich die chinesische Volksbefreiungsarmee erstmals auf den Straßen Hongkongs gezeigt. Offiziell dürfen Soldaten vom Festland nur eingreifen, wenn sie ausdrücklich von der Regierung der Sonderverwaltungszone darum gebeten werden. Die Männer, deren Hemden sie als Mitglieder einer "Anti-Terrorismus-Brigade" kennzeichneten, gaben an, freiwillig und ohne Auftrag als Aufräumkommando tätig zu sein, das Barrikaden und die Steine von den Straßen entfernte.
Dass Soldaten in so einer zugespitzten Situation keinesfalls ohne Befehl von oben handeln, ist natürlich klar. Offensichtlich schien diese Aktion manchem in Peking geschickt. Die Pekinger Regierung wollte zeigen, dass die Militärs bereit sind, machte aber auch deutlich, dass sie - noch - in friedlicher Absicht handeln. Bei den gewaltbereiten Aktivisten kam diese Ambivalenz der Botschaft nicht an. Es ist keine Überraschung, dass sie sie als Provokation sahen. Das zeugt davon, wie aufgeheizt die Stimmung in der inzwischen Stadt ist. Die blutigen Auseinandersetzungen haben in den vergangenen Tagen einen neuen Höhenpunkt erreicht. Auf beiden Seiten sprechen die Waffen. Selbstjustiz hat in Hongkong seit Wochen Aufwind. Sogar die Vögel fallen mittlerweile vom Tränengas vergiftet vom Himmel. Endzeitstimmung.
Die Nerven liegen blank
Hunderte Studenten haben sich derzeit in der vom Tränengas vernebelten Polytechnischen Universität in Tsim Sha Tsui verschanzt. Einige schießen mit Steinschleudern oder Pfeil- und Bogen, die sie aus der Sportschützenabteilung der Universität erbeutet haben. Oder sie werfen Molotow-Cocktails auf die Polizei, die draußen versucht, der Lage Herr zu werden. Zum ersten Mal gelingt es ihr nicht, einen von Aktivsten besetzten Ort umgehend wieder zu räumen. Die Nerven liegen daher blank. Die Polizei bietet einen gewaltfreien Abzug der Demonstranten an, aber keinen straffreien. Das wollen die Aktivisten nicht. Doch sie sind eingekesselt, die Zeit spielt gegen sie.
Regierungschefin Carrie Lam hat sich zu lange eingeigelt, statt auf die Straßen zu gehen und - wie der französische Präsident Emmanuel Macron während der wochenlangen Gelbwestendemos - den Dialog mit den Menschen zu suchen. Stattdessen verschanzt sie sich und verordnet Hongkong ein in dieser Lage absurdes Vermummungsverbot, das nun auch noch vom obersten Gericht als verfassungswidrig eingestuft wurde. Selbst unter den Hongkongern, die der Protestbewegung kritisch gegenüber stehen, hat Lam kaum noch Rückhalt. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat ihr jedoch bei ihrem jüngsten Besuch in Peking "vollstes Vertrauen" zugesichert.
Xi steckt in einem Dilemma: Kritisiert er Lam, ist das eine Einmischung in die Angelegenheiten Hongkongs. Lässt er ihr freie Hand und vertraut ihr, macht er sich zum Komplizen ihrer Sprachlosigkeit. Deswegen sagt er auch nur salomonisch: "Hongkongs wichtigste Aufgabe sei nun, das Chaos zu beenden und die Ordnung wiederherzustellen." Die chinesischen Staatsmedien lässt er allerdings deutlicher werden: "Die Meute muss so schnell wie möglich zur Rechenschaft gezogen werden", fordert die englischsprachige "Global Times" und illustriert ihre Worte ausschließlich mit den Bildern gewaltbereiter Demonstranten. Das ist der gleiche Ton, den das deutsche Boulevard-Blatt "Bild" angesichts der Gewalt beim G20-Gipfel in Hamburg vor zweieinhalb Jahren angeschlagen hat: "G20-Chaoten", "Brutalo-Schläger", "gewalttätiger, marodierender Mob". Den hat "Bild" allerdings aus freien Stücken angeschlagen und nicht - wie hier - staatlich verordnet.
Carrie Lam nicht kompromissbereit
Peking sitzt zwischen den Stühlen: Während es in China sicherlich eine Mehrheit dafür gibt, die Ordnung und damit das staatliche Gewaltmonopol mit allen Mitteln wiederherzustellen, würde ein Eingreifen festlandchinesischer Polizei oder gar des Militärs dem Ruf Chinas in der Welt sehr schaden. Diesen Preis möchte Peking derzeit nicht zahlen. Damit liegt der schwarze Peter bei Carrie Lam. Die jedoch scheint nicht kompromissbereit zu sein. Es habe ja auch nichts gebracht, dass Gesetz für die Auslieferung von nach Ansicht Pekings straffällig gewordenen Chinesen zurückzuziehen, hört man aus ihrer Umgebung.
Dennoch sollte sie es nochmals versuchen: Eine unabhängige Untersuchung der Polizeiaktivitäten könnte Hongkong nicht schaden, vor allem wenn die Untersuchung von einem neuen Gremium durchgeführt würde, das eigens dafür gegründet werden soll. Es ist allerdings in der Tat ein Problem, dass die Demonstranten derzeit offensichtlich nicht verhandlungsbereit sind und, was es noch schwieriger macht, behaupten eine "führerlose Bewegung" zu sein. Damit fehlt ein Ansprechpartner.
Die Zeit spielt gegen die Studenten
Bleibt also nur Lams Rücktritt. Der würde aber nur funktionieren, wenn jemand die Regierungsgeschäfte übernehmen würde, dem die Demonstranten vertrauen. Der oder die ist jedoch nicht einfach zu finden. Die Zeit spielt allerdings gegen die gewalttätigen Demonstranten. Hongkong rutscht dieses Jahr in eine Rezession. Und je größer der wirtschaftliche Druck wird, desto weniger ist die Mehrheit der Hongkonger bereit, die Gewaltexzesse zu dulden.
Die Menschen - Polizei und Demonstranten gleichermaßen - wollen zurück zu ihren Familien, zurück in ein Leben ohne Chaos und Bedrohung. Soviel dürfte allen, die in der verfahrenen Situation etwas bewegen können, klar sein. Die nächste schwache Hoffnung scheinen derzeit die bevorstehenden Distriktwahlen nächsten Sonntag zu sein - vorausgesetzt sie werden nicht abgesagt.
"Ein Land, zwei Systeme" für immer?
Einen Befreiungsschlag könnte Peking aber wagen: Warum muss eigentlich der in den Verhandlungen mit der Kolonialmacht Großbritannien gefundene Kompromiss "Ein Land, zwei Systeme" nur für 50 Jahre gelten? Wenn Hongkongs Stärken wie die hochentwickelte Rechtsstaatlichkeit, aber auch die Pressefreiheit und die freie Börse für den Süden Chinas so wichtig sind, warum dann eigentlich nicht "Ein Land, zwei Systeme" für immer? Das wäre nicht nur ein Befreiungsschlag, sondern auch ein wichtiges Signal in Richtung Taiwan. Aber das ist wahrscheinlich ein frommer Wunsch. Über diesen Schatten wird Peking nicht springen.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.