"Es will keiner zurück"
18. August 2014Deutsche Welle: Herr Simon, wo genau sind Sie derzeit unterwegs, und welche Situation haben Sie dort vorgefunden?
Friedhelm Simon: Wir sind im Moment in dem kleinen Ort Zakho im Nordirak nahe der türkischen Grenze. Hierher sind in den letzten Tagen sehr viele Menschen geflüchtet, größtenteils Jesiden. Man schätzt, dass sich in dieser Region etwa 150.000 Flüchtlinge aufhalten. Sie sind notdürftig in Schulen untergebracht, in halbfertigen Rohbauten, oder sie haben in Tankstellen ihr Lager aufgeschlagen. Es ist ein ziemlich schlimmer Zustand hier: Es gibt keine offiziellen Nahrungsmittelhilfen, die Flüchtlinge, die wir bisher getroffen haben, werden alle von Nachbarn verpflegt, die Früchte wie Wassermelonen vorbeibringen. Bisher ist die Bevölkerung sehr hilfsbereit, aber wie lange das anhält, weiß ich nicht.
Ihre Organisation plant, die Hilfsmaßnahmen dort auszuweiten. Wie könnte das konkret aussehen, was wird vor Ort am Nötigsten gebraucht?
Wir fangen jetzt erst einmal damit an, die Unterstützung für 2.800 Familien zu organisieren. Als Soforthilfe verteilen wir zunächst Lebensmittelpakete, die alles Wichtige wie Zucker, Salz, Nudeln und Reis enthalten und für etwa für einen Monat reichen. Die meisten Familien haben zumindest ein paar Kochutensilien bei sich, um Mahlzeiten zuzubereiten. Offizielle Hilfen gibt es hier noch gar nicht, auch von kurdischer Seite nicht, weil man hier völlig überfordert ist. Es sind einfach zu viele Menschen hier, die auch auf keinen Fall zurück wollen.
Wie funktioniert denn derzeit die Koordination der Hilfe vor Ort? Gibt es lokale Partner, und wie klappt die Zusammenarbeit?
Wir arbeiten sehr gut mit einer türkischen Organisation zusammen, mit der wir auch schon im letzten Jahr an der syrischen Grenze kooperiert haben. Deren Mitarbeiter organisieren auch die Lebensmittel, sie kümmern sich darum, dass sie sortiert und verpackt werden. Ohne diese logistische Unterstützung wäre das für uns gar nicht machbar.
Es wird ja immer mehr darüber bekannt, welche Gräueltaten die IS-Milizen dort anrichten. Haben Sie den Eindruck, dass viele der Flüchtlinge traumatisiert sind?
Viele von ihnen stehen völlig unter Schock. Sie berichten von unvorstellbaren Grausamkeiten, die sie zum Teil auch mit Fotos dokumentieren können, die sie auf ihren Mobiltelefonen gespeichert haben. In Flüchtlingslagern hat man mir Bilder gezeigt, auf denen Menschen zu sehen sind, die enthauptet wurden, weil sie sich geweigert haben, zum islamischen Glauben zu konvertieren. So etwas habe ich noch nie gesehen, und ich habe in Krisengebieten ja schon einiges erlebt. Und wenn ich mir dann vorstelle, dass auch in Deutschland zum Teil Jesiden, die auf der Straße für ihre Glaubensbrüder im Irak demonstrieren, von Islamisten angegriffen werden - das ist schon erschreckend.
Bei alldem, was diese Menschen durchmachen mussten: Ist es überhaupt vorstellbar, dass sie jemals wieder in ihre Heimatorte zurückkehren?
Nein. Ich habe keinen einzigen getroffen, der bereit ist, wieder zurückzugehen. Selbst die, die es in die kurdischen Gebiete geschafft haben, wollen unbedingt weiter in die Türkei, weil sie panische Angst davor haben, dass die Islamisten auch in diese Regionen vordringen. Die wollen einfach nur weit weg, die meisten nach Europa.
Welche Perspektive haben die Flüchtlinge denn dort, wo sie sich jetzt aufhalten? Können sie dort erst einmal bleiben?
Das Problem ist: Was macht man mit den Leuten dort? Irgendwann in den nächsten Wochen kommt der Winter, dann wird es auch in dieser Region sehr kalt. In dieser kurzen Zeit wird man es kaum schaffen, für all diese Menschen Lager aufzubauen. Auch die örtlichen Behörden wissen nicht, wie sie diesem Ansturm von Menschen gerecht werden sollen. Man fühlt sich dort ziemlich alleingelassen mit diesem Problem. Und die türkische Regierung hat schon genug Probleme, all die syrischen Flüchtlinge zu versorgen. Viele der Flüchtlinge aus dem Irak können aber ohnehin nicht über die türkische Grenze, weil ihnen die Pässe von den Islamisten abgenommen worden sind. Sie wissen einfach nicht mehr wohin.
Die Bundesregierung hat ja humanitäre Hilfe für den Nordirak bewilligt und die Bundeswehr hat bereits 36 Tonnen Hilfsgüter geliefert. Mehr soll in der kommenden Woche folgen. Haben Sie davon bereits etwas gespürt?
Bei uns hier an der türkisch-irakischen Grenze ist davon noch nichts angekommen. Es hat uns auch keiner gefragt, was in der Region gebraucht wird. Ich vermute, dass die Hilfen in Erbil an die örtlichen Behörden übergeben worden sind und dort in der Umgebung verteilt werden. Wir sind die einzigen, die hier in der Gegend vertreten sind, ansonsten sind keine internationalen Hilfsorganisationen aktiv. Die Hilfe, die den Flüchtlingen hier zuteil wird, kommt ausschließlich aus privater Hand.
Das Interview führte Jeanette Seiffert.
Friedhelm Simon koordiniert seit über 30 Jahren humanitäre Hilfen in Krisengebieten in Afrika und Asien, unter anderem bei Bürgerkriegen und Naturkatastrophen. Früher arbeitete er für die Welthungerhilfe, seit 15 Jahren für die Organisation "Help". Sie versorgt derzeit im Nordirak rund 14.000 Vertriebene mit Nahrungsmitteln.