Simon: "Jede Sportart ist dopinganfällig"
13. Januar 2014DW: Herr Simon, insgesamt soll es vor und während der Spiele in Sotschi mehr als 3.500 Doping-Kontrollen geben - so viele wie nie zuvor in der Geschichte der Winterspiele. Was ist von den Rekordzahlen zu halten?
Professor Simon Perikles: Die Zahl an sich sagt nur wenig aus. Rekordtests sind nichts Neues, bei allen Olympischen Spielen wurden die Zahlen gesteigert. Was wir brauchen, ist ein Rekord an Effizienz, sodass die Doper auch überführt werden. Zudem müssen die Proben eingefroren werden, weil wir wahrscheinlich vieles von dem, was die Athleten verwenden, noch nicht nachweisen können.
Der neue IOC-Präsident Thomas Bach spricht dennoch von "härterem und schlauerem" Anti-Doping-Kampf. Alles nur Schein?
Ich glaube, dass sich der Anti-Doping-Kampf verbessert hat, besonders in den letzten Jahren. Nur leider muss man das Tempo relativ sehen zu der Entwicklung, die wir in der Medizin hatten und den Möglichkeiten, mit denen man sich heute dopen kann. Unser Problem ist, dass der clevere Doper, gemeinsam mit einem Team mit Know-How im Hintergrund, sehr viele unterschiedliche Substanzen einsetzt, diese teilweise mischt und nur in geringen Konzentrationen verwendet. Er weiß genau, was er im Training nehmen kann, wann er vor dem Wettkampf absetzen muss und auf welche Substanz er im Wettkampf umschwenken kann, weil wir diese noch nicht nachweisen können. Beispielsweise IGF-1, ein Nachkömmling vom Wachstumshormon oder experimentelle Substanzen wie AICAR, die körpereigen sind und wo wir am absoluten Limit ankommen.
Haben die hohen Kontrollzahlen denn einen gewissen Abschreckungsfaktor?
Sportler könnten abgeschreckt werden, mit alten Hausmitteln zu dopen. Es ist aber zu befürchten, dass in westlichen Industrienationen nach wie vor Hightech-Doping durchgeführt werden kann. In den Entwicklungs- oder Schwellenländern gibt es dagegen noch sehr rudimentäre Dopingverfahren. Das sind dann auch meistens die wenigen Fälle, die aufgedeckt werden. Zuletzt konnten vermehrt Athleten aus dem ehemaligen Ostblock überführt werden. Hier sieht man, dass die Trainingskontrollen in diesen Ländern anscheinend noch nicht gut genug greifen.
Erwischt werden nur die wenigsten. Ist während der Spiele mit Dopingfällen zu rechnen?
Momentan sieht es danach aus, dass nur sehr unvorsichtige Athleten bei den Spielen überführt werden. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass in der Retrospektive bei Nachtests wieder einige Betrüger entlarvt werden, wie zuletzt mit Proben von Athen 2004. Aber das ist leider nicht besonders befriedigend. Es wird wohl die typischen ein bis zwei Fälle geben, mehr nicht.
Dabei haben Doping-Skandale bei Winterspielen schon fast Tradition. 2002 wurde der dreifache Olympiasieger Johann Mühlegg des Blutdopings überführt, 2006 gab es eine groß angelegte Doping-Razzia. Sind Wintersportarten besonders anfällig für Doping?
Wir gehen heutzutage davon aus, dass nahezu jede Sportart anfällig für Doping ist. Das hängt damit zusammen, dass sich alle Sportarten professionalisiert haben und die Athleten sehr genau wissen, wo ihre physischen Defizite liegen. Selbst kognitive Defizite oder auch die Konzentrationsfähigkeit können gedopt werden. Gerichtsverfahren haben gezeigt, dass Sprinter sich mit Ausdauer-Mitteln wie EPO dopen. Warum? Weil sie so viel trainieren, dass auch die Ausdauer irgendwann leistungslimitierend wird. Ähnlich ist es in den Ausdauersportarten, wo auf einmal anabole Steroide auftauchen. Wir müssen befürchten, dass es selbst in kreativen Disziplinen wie Eiskunstlauf Doping geben könnte. Und sei es nur, wenn ein Athlet mit dem Gewicht kämpft und dafür Substanzen einsetzt.
Auch der nordische Skisport steht immer wieder im Visier der Doping-Fahnder. Es gibt Experten, die ihn für ähnlich verseucht halten wie den Radsport.
Wenn es um die Anfälligkeit für Doping geht, stehen die Ausdauersportarten im Wintersport denen im Sommer in nichts nach. Im Gegenteil, es gibt extreme Disziplinen wie etwa Biathlon. Dort ist es am Schießstand auch entscheidend, wie schnell sich der Puls nach einer harten körperlichen Belastung wieder beruhigt. Und genau dafür gibt es Substanzen, die über das reine typische Ausdauerdoping hinausgehen. Früher hat man gesagt, je komplexer die Sportart, desto unwahrscheinlicher ist Doping. Heute sehen wir das komplett anders.
Nach den Spielen in London 2012 waren sie öffentlich davon ausgegangen, dass "im Schnitt 60 Prozent der Athleten gedopt waren". Wie sieht Ihre Einschätzung für Sotschi aus?
Es bleibt eine reine Schätzung. Aber wenn man Experten und Ärzte befragt, die lange im Hochleistungssport tätig sind, wie es in der absoluten Weltspitze aussieht, dann bekommt man ein ziemlich ernüchterndes Meinungsbild. Und es deckt sich mit dem, was im Radsport schon alles herausgekommen ist. Ein roter Faden zieht sich durch alle Sportarten. Die Quoten dürften im Sommer wie im Winter relativ gleich sein. 60 Prozent halte ich für eine realistische Schätzung.
Nehmen Sie den Verantwortlichen im IOC die Vorreiterrolle im Anti-Doping-Kampf eigentlich ab?
Das IOC hat sehr viele wichtige Dinge im Sport zu vertreten. Doch ich halte es nicht für sinnvoll, dass es sich auch noch mit dem Dopingproblem maßgeblich befasst. Im IOC gibt es zu viele Interessen, die gegen einen ernsthaften Anti-Doping-Kampf sprechen. Wenn der Sport in der Gesellschaft sauber dastehen soll und es am besten gar keine positiven Befunde gibt, ist die Ausgangslage sehr ungünstig. Es braucht unabhängige Strukturen. Auch die Doping-Labore vor Ort sind ein Problem. Wenn diese allein für Olympische Spiele aufgemacht werden, sind frühzeitig alle Fakten bekannt. Welche Testgeräte werden angeschafft, wer bedient diese? Was gibt es für Expertisen? Es wäre schlauer, die Tests in den akkreditierten Laboren durchzuführen - dort, wo sie am besten etabliert sind. Immer wieder hört man davon, dass die eingerichteten Labore von der WADA [Welt-Anti-Doping-Agentur Anm. d. Red.] gesperrt werden, jetzt sogar in Russland kurz vor den Spielen. Das ist kein gutes Zeichen.
Prof. Perikles Simon ist Dopingforscher und leitet die Abteilung Sportmedizin am Institut für Sportwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied im Gendoping-Panel der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) und hat gemeinsam mit Kollegen der Universität Tübingen einen Direktnachweis für Gendoping entwickelt. Der Test ist aber noch nicht im Einsatz.
Das Interview führte Pascal Jochem.