Sind die Deutschen faul geworden?
14. Mai 2024Ein Blick auf die Zahlen der Industriestaatenorganisation OECD kann schon erschrecken. Demnach arbeitete 2022 der durchschnittliche US-Amerikaner mehr als 1800 Stunden pro Jahr, der durchschnittliche Deutsche dagegen nur 1340 Stunden. Den Rückschluss, die Deutschen seien faul geworden, dürfe man daraus allerdings nicht ziehen, meint der Arbeitsmarktexperte Enzo Weber. Er forscht am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), eine Art Thinktank des Bundesagentur für Arbeit.
"Deutschland hat eine sehr hohe Frauenerwerbsquote im Vergleich zu den meisten anderen Ländern", so Weber. Rund jede zweite Frau arbeitet in Teilzeit. Rein rechnerisch drückt das die durchschnittliche Jahresarbeitszeit nach unten.
Beispiel: Wenn zwei Männer in einem Land zehn Stunden arbeiten, ist die durchschnittliche Arbeitszeit zehn Stunden (10+10):2=10. Arbeiten in einem anderen Land zwei Männer zehn Stunden und eine Frau vier Stunden, dann ist die durchschnittliche Arbeitszeit acht Stunden (10+10+4):3=8.
Deutsche arbeiten mehr, nicht weniger
"Die Zahlen bedeuten also nicht, dass in Deutschland weniger gearbeitet wird", sagt Weber. "Ganz im Gegenteil, es wird mehr gearbeitet, denn die Alternative wäre ja, dass diese Frauen gar nicht in der Statistik drin wären." Auch die OECD weist darauf hin, dass sich die Daten nur beschränkt zum internationalen Vergleich eignen würden.
In Deutschland haben sich die Zeiten, als Männer Vollzeit im Job waren und Frauen zu Hause, verändert. Inzwischen arbeiten 77 Prozent der Frauen - damit ist der Anteil der Frauen in der Berufswelt in den letzten dreißig Jahren deutlich gestiegen, auch wenn viele in Teilzeit beschäftigt sind.
Wunsch nach weniger Arbeit ist da
Dabei würden die Deutschen durchaus gerne weniger arbeiten. Das haben Umfragen immer wieder gezeigt. Laut einer Studie des IAB möchten von den Frauen, die in Vollzeit beschäftigt sind, beinahe die Hälfte ihre Arbeitszeit um gut sechs Stunden reduzieren. Bei den Männern würden gerne knapp 60 Prozent um die 5,5 Stunden weniger arbeiten. Diese Wünsche gibt es bereits seit Jahrzehnten und sie haben sich im Zeitverlauf nicht sehr verändert.
Auch Gen Z ist besser als ihr Ruf
Besonders schlecht ist im Hinblick auf die Arbeitszeitwünsche, der Ruf der sogenannten Gen Z, also der Menschen, die in den Jahren 1995 bis 2010 geboren wurden. Sie wollen möglichst viel Freizeit und möglichst hohe Gehälter haben. So ein oft wiederholtes Vorurteil. Enzo Weber kann das nicht bestätigen. Der Mehrheit der Generation Z sei Erfolg im Beruf wichtig. Damit würden sie sich nicht von vorherigen Generationen unterscheiden, meint Weber.
"Ich glaube, alle wollen möglichst viel Freizeit und hohe Gehälter haben. Dagegen kann ich schlecht etwas sagen. Was wir für die Jungen finden: keine ungewöhnliche Entwicklung der Arbeitszeitwünsche, kein ungewöhnlicher Rückgang des beruflichen Engagements, nicht mehr Jobwechsel als junge Leute früher."
X-Tage Woche ermöglichen
Inzwischen haben sich zudem die Lebensmodelle der Deutschen verändert. "Den Alleinverdiener-Haushalt aus der Zeit des Wirtschaftswunders gibt es kaum noch", so Weber. Inzwischen würden in der Regel beide Partner arbeiten und bräuchten daher eine gewisse Flexibilität. "Jeder sollte frei wählen können, in welcher Lebensphase er wie viel arbeitet", meint Weber daher. "Wir brauchen keine 5- oder 4-Tage-Woche, sondern eine X-Tage-Woche und eine Flexibilisierung der Arbeit über die gesamte Lebenszeit." Mit flexibleren Arbeitsmodellen könnten auch Menschen im Ruhestandsalter motiviert werden, doch noch weiter zu arbeiten.
Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass ein flexibles und mobiles Arbeiten funktioniert, meint Weber. Diese Entwicklung ließe sich nicht wieder zurückdrehen. Und es sei sinnvoll, Arbeit so zu gestalten, dass Menschen damit zufrieden sind.
Verhandlungspositionen am Arbeitsmarkt verschoben
Die Forderungen nach kürzerer und flexiblerer Arbeitszeit, sind zudem in Zeiten von Fachkräftemangel und durch die Erfahrungen, die in der Corona-Pandemie gemacht wurden, leichter durchsetzbar als nach der Jahrtausendwende, als es Massenarbeitslosigkeit gab.
Wie aber passt "weniger Arbeiten" zusammen mit dem steigenden Bedarf an Fachkräften und dem Wunsch, keine Wohlstandsverluste zu erleiden? Allein durch die demografische Entwicklung wird erwartet, dass bis 2035 sieben Millionen Menschen weniger auf dem deutschen Arbeitsmarkt sein werden.
Produktivität ist ein Schlüsselfaktor
Ein Hebel, wenn die Zahl der gearbeiteten Stunden nicht steigt oder sogar sinkt, ist, die Qualität der Arbeit, also die Produktivität zu steigern. Enzo Weber ist der Ansicht, dass es keinen Sinn mache, aus den Menschen die maximalen Arbeitszeiten rauszupressen. Er hält es für sinnvoller, die Qualität der Arbeit zu steigern: durch Fortbildung, durch Investitionen in Digitalisierung, KI und durch den ökologischen Umbau der Wirtschaft.
Wichtig sei eine proaktive Qualifizierungspolitik, glaubt Weber. Es dürfe also nicht gewartet werden, bis jemand vom Strukturwandel abgehängt wurde, um dann mit einer Notmaßnahme zu versuchen, ihn zu retten. Vielmehr müssten die Menschen in die Lage versetzt werden, selbst initiativ zu werden und selbst eine aktive Rolle spielen zu können.
Produktivitätswachstum hat sich sehr verlangsamt
Im Augenblick sieht es allerdings nicht rosig aus, was die Produktivität angeht. Da herrsche eher Stagnation, beklagt Weber. Zwischen 1997 und 2007 wurde in Deutschland noch ein Produktivitätswachstum von 1,6 Prozent erreicht, so eine Studie des McKinsey Global Institute (MGI). Im Zeitraum 2012 bis 2019 halbierte sie sich aber auf 0,8 Prozent.
Das liegt unter anderem daran, dass viele Stellen in Bereichen mit geringerer Produktivität, etwa bei personalintensiven Dienstleistungen geschaffen wurden. In der Pflege, Erziehung oder im Bereich Gesundheit sind Produktivitätssteigerungen nur beschränkt möglich.
Die gesamtwirtschaftliche Produktivität ist auch gesunken, weil die Konjunktur schwächelt und viele Unternehmen aufgrund des Fachkräftemangels trotzdem ihre Mitarbeiter halten und damit die Arbeitskosten nicht verringert werden. Das senkt die Produktivität. Auch bei den Themen Investitionen in technologische Entwicklung, Digitalisierung und bei der ökologischen Transformation könnte mehr passieren, so der Tenor des Digitalrates der BDA(Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände).
Unabhängig von der Entwicklung der Produktivität gibt es aber auch noch viele ungenutzte potentielle Arbeitskräfte. "Dies betrifft nicht nur die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Erhöhung der Arbeitszeit von Menschen in Teilzeit, sondern auch die vielen Migrantinnen und Migranten und Deutsche, die keinen Schul- oder Berufsabschluss haben und denen häufig schon früh viele Chancen genommen werden, ein produktiver Teil im Arbeitsleben sein zu können," meint Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.