Wie uns das Coronavirus hilfsbereiter macht
27. März 2020Der Wunsch zu helfen kam Lena beim Einkaufen. Dort sah die Studentin einen älteren Mann vor einem leergekauften Konservenregal stehen. Er stand da eine Weile, um dann unverrichteter Dinge wieder abzuziehen.
"Dieser Mann musste wahrscheinlich in mehrere Läden gehen, um all die Dinge zu besorgen, die er brauchte. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht", erzählt Lena.
Das ist die eine menschliche Eigenschaft, die das neuartige SARS-CoV-2 deutlich sichtbar macht: Egoismus. Jeder ist sich selbst der nächste. Trotz zahlreicher offizieller Aufrufe, Hamsterkäufe seien weder notwendig noch sozial verträglich, ist es vielerorts schwer, an Toilettenpapier, Mehl oder Dosentomaten heranzukommen.
Dabei sind gerade ältere Menschen dazu aufgefordert, zu Hause zu bleiben und den Kontakt mit potentiell Infizierten zu vermeiden.
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Um die, die helfen wollen, mit denen zu verbinden, die Hilfe brauchen, riefen Lena und ihre Freundin Ana Mitte März die Facebook-Gruppe Corona Hilfe Bonn ins Leben. "Innerhalb von vier Stunden hatte die Gruppe 400 Mitglieder", erzählen die beiden jungen Frauen. Mittlerweile sind mehr als 1.100 Menschen der Gruppe beigetreten.
In der Krise, die uns das Coronavirus beschert, zeigt sich nämlich auch eine weitere menschliche Eigenschaft: Hilfsbereitschaft. Ob digital auf Facebook oder ganz analog per Aushang – das Hilfsangebot ist vielfältig: Vom Angebot der Einkaufshilfe über Gassigehen mit dem Hund bis hin zur ehrenamtlichen Arbeit in Krankenhäusern.
Spaltet die Krise unsere Gesellschaft also sichtbar in Egoisten und Altruisten auf? In die guten Hilfsbereiten und die bösen Hamsterkäufer? "Die Wirklichkeit ist sehr viel komplexer", sagt die Psychologin Anne Böckler-Raettig, die an der Universität Würzburg unter anderem zu sogenanntem prosozialen Verhalten forscht. Darunter ist auch die in der aktuellen Krise sichtbare Hilfsbereitschaft zu verstehen.
"Prosoziales Verhalten hat viele Gesichter und jede Person hat ihr eigenes Repertoire. Wir alle sind manchmal sehr egoistisch. Und wir alle sind manchmal sehr fair, kooperativ und prosozial", sagt Böckler-Raettig.
Die Vielfalt des Prosozialen
"Viele Gruppenmitglieder bringen ihre eigenen Erfahrungen ein und setzen individuelle Prioritäten", bestätigt Lena. Die einen möchten vor allem etwas für die Obdachlosen tun, andere für die Landwirte, wieder anderen ist die Unterstützung von Pflegekräften am wichtigsten.
"Einer hat angeboten, mit Menschen zu telefonieren, die nur schwer mit der Isolation zurechtkommen", sagt Ana. "Das hat mich sehr berührt."
Die Motivationen, die hinter der Hilfsbereitschaft stecken, sind fast so vielfältig, wie die Hilfsangebote selbst. Warum wir anderen Menschen Zeit, Energie, Informationen oder Geld zur Verfügung stellen kann variieren.
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Altruismus und Empathie
"Das Erste, woran wir bei Hilfsbereitschaft denken, ist: Wir wollen, dass es jemand anderem besser geht und wir wollen dessen Leid mindern", sagt Böckler-Raettig. "Das würden wir als altruistische Motivation bezeichnen."
Das mit dem Altruismus ist allerdings so eine Sache. Ob es die rein altruistische Hilfsbereitschaft - die ausschließlich das Wohl des anderen im Blick hat - überhaupt gibt, ist umstritten. Böckler-Raettig fasst unter Altruismus alle Motive zusammen, die "die Absicht verfolgen, anderen Gutes zu tun."
Als Lena den älteren Herrn vor dem leeren Regal im Supermarkt stehen sah, hat sie sich in ihn hineinzuversetzen versucht: Was würde ich mir in so einer Situation wünschen?
"Empathie und Mitgefühl sind ganz wichtige Motivationen für prosoziales Verhalten", sagt Charlotte Grosse Wiesmann, Neurowissenschaftlerin und Entwicklungspsychologin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich mit der Entwicklung sozialer Fähigkeiten im Kindesalter.
Hilfsbereit von Anfang an
"Hilfeverhalten ist ein fundamentales Verhalten", sagt Grosse Wiesmann. "Bereits einjährige Kinder zeigen spontane Hilfsbereitschaft und heben beispielsweise etwas vom Boden auf, um es einem Erwachsenen wieder zu geben, dem es heruntergefallen ist." Kinder seien sehr früh sehr gut darin, das Ziel einer anderen Person zu erkennen.
Die kindliche Hilfsbereitschaft hat zunächst wenig mit Altruismus zu tun. Vielmehr dient sie der Vertiefung der sozialen Bande. Indem das Kind das Ziel des anderen erkennt und mithilft, wird gemeinsames Handeln möglich. "Einen großen Tisch können wir nur gemeinsam anheben", sagt Grosse Wiesmann über die Bedeutung dieses Entwicklungsschrittes.
"Der Entwicklungspsychologe Michael Tomasello vertritt die Theorie, dass Menschen sich vor allem durch Kooperation auszeichnen, und die Ziele der Anderen zu erkennen und ihnen zu helfen ist ein wichtiger Entwicklungsschritt dorthin", sagt die Entwicklungspsychologin. Auch ein fieses Virus bekämpfen wir besser alle zusammen.
Mit etwa zwei Jahren entwickeln die Kleinen empathische Hilfsbereitschaft. "Sie fangen an, Emotionen anderer zu erkennen und darauf zu reagieren – beispielsweise indem sie versuchen zu trösten", erklärt Grosse Wiesmann.
Hilfst du mir, helfe ich dir
Auch das hat mit Altruismus wahrscheinlich weniger zu tun, als uns lieb ist. Stattdessen ist Reziprozität eine weitere wichtige Motivation hilfsbereiter Menschen. Reziprozität bedeutet soviel wie Gegen- oder Wechselseitigkeit: Wer Trost spendet, erhöht die Chance, selbst im Bedarfsfall getröstet zu werden.
So waren Lena und Ana nicht ausschließlich von dem völlig selbstlosen Wunsch motiviert, anderen etwas Gutes zu tun. Ihre Hoffnung ist, dass auch ihnen oder ihren Familien helfende Hände gereicht werden, sollten sie sie irgendwann einmal benötigen. Nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir.
Auf diese Weise könnte die Reziprozität eine Art Dominoeffekt der Hilfsbereitschaft auslösen, sodass immer mehr Menschen einander unterstützen. Lenas und Anas Fazit lautet tatsächlich: An Bereitschaft zu helfen mangelt es längst nicht mehr. Wohl aber an der Bereitschaft, Hilfe anzunehmen.
Gut gemeint ist nicht immer gut
Böckler-Raettig ist darüber gar nicht sonderlich verwundert. Natürlich könne Hilfsbereitschaft auch Schattenseiten haben: "Manchmal kann man jemandem mit zu viel Hilfe auch die Selbsthilfe verwehren", erklärt sie.
In der Folge könnten Menschen in Abhängigkeit der helfenden Personen geraten. Das schwächt sie langfristig, anstatt zu stärken.
"Wenn die Menschen aber wüssten, wie prosozial es ist, Hilfe anzunehmen", sagt die Psychologin lachend. "Zu helfen und großzügig zu sein belohnt auch den Helfenden selbst. Deshalb tut auch derjenige, der die Hilfe annimmt, etwas Gutes."
Solidaritätsstrohfeuer?
Ob die Hilfsbereitschaft mit der Corona-Krise kommt und mit ihr wieder geht, wissen wir natürlich nicht. Doch Böckler-Raettig ist optimistisch.
"Je häufiger wir prosoziales Verhalten zeigen und merken wie gut uns das tut - ob innerhalb der Gesellschaft, im Freundeskreis oder auch ganz persönlich - desto mehr zeigen wir dieses Verhalten auch."
Womit wir wieder bei der Reziprozität wären. Lena und Ana befinden sich momentan in Quarantäne. An Klopapier und Nudeln mangelte es bisher nicht, dafür an Schokolade. Deshalb nutzten die beiden ihr selbstgegründetes Netzwerk.
Innerhalb kurzer Zeit boten sich elf Menschen als Schoko-Lieferanten an und versorgten Lena und Ana mit mehreren Tafeln. Prosoziales Verhalten zeigt sich oft in ganz bescheidenem Gewand.
Das ist allerdings nicht weniger wert. Lena und Ana haben sich riesig gefreut. Die Psychologin Anne Böckler-Raettig ist überzeugt: "Jede einzelne Geste zählt."